Blick in eine unsichtbare Zukunft

Marcell auf der Treppe

MENSCHEN: Blick in eine unsichtbare Zukunft

Marcell Feldmann muss wegen seiner Erbkrankheit Usher-Syndrom mit Erblindung rechnen

 

Der 37 Jahre alte Marcell Feldmann weiß erst seit einigen Monaten, dass er eine Krankheit hat, deren Verlauf er weder mit einer gesunden Lebensführung noch sonst wie beeinflussen kann. Wie lange er noch sehen kann und ob sein Gehör weiter beeinträchtigt wird, das entscheidet das Schicksal.

Als Kind konnte Marcell Feldmann nicht so gut hören, in der Pubertät wurde er nachtblind. Mit 18, 20 nahm die Schwerhörigkeit zu, hinzu kam eine Sehschwäche. Die Ärzte und er dachten sich nichts wirklich Schlimmes dabei, auch nicht mit Ende 20, als sein Gesichtsfeld immer kleiner wurde. Der junge Mann bekam eine neue Brille, danach ging es wieder ein paar Jahre.

Marcell Feldmann hatte eine dunkle Ahnung, als er im März in den Frühlingshimmel schaute und nur ein grelles, unangenehm blendendes Licht sah, der Schleier vor seinen Augen zunahm, er das nach dem Winter ersehnte Sonnenlicht wegknipsen musste. Diese Art von Dunkelheit hasst er: nicht richtig dunkel und nicht richtig hell.

Das Tageslicht zu grell und nachts blind. „Ich glaube, es ist so weit, ich brauche Hilfe“, gestand er sich nach diesem Schub ein. Der gebürtige Brandenburger telefonierte sämtliche Augenarztpraxen in der Stadt ab, doch keiner hatte Platz für einen Kassenpatienten. Als „Selbstzahler“ bekam er einen Termin.

„Selbstsicher sitze ich da, lasse mich testen“, erinnert sich der Patient. „Ich sehe es, wenn Menschen überrascht sind, ich kann es manchmal riechen und sehr oft hören.“

Der Assistent der Augenärztin ist überrascht – vom Ausmaß der Sehschwäche des Patienten. Marcell Feldmann riecht das Unbehagen, als der Assistent leise mit der Ärztin spricht. Sie ruft den Patienten zu sich, spricht mit ihm, will sicher gehen und wiederholt den Test. Diesmal ist Feldmann Kassenpatient.

Am Ende sagt die Ärztin, dass er sehr schlecht sehe, „fast etwas blind“ sei und dass es ihr leidtue. Von Augenärztin Tanja Wach und ihrem Team ist Marcell Feldmann begeistert. Sie waren die ersten, die den richtigen Verdacht hatten, fundiert helfen und die bestmögliche Hilfe in die Wege leiteten.

Inzwischen wurde der junge Mann, der seinen Beruf als Versicherungskaufmann aufgeben musste, in der Charité untersucht. Die Diagnose steht fest: Usher-Syndrom. „In ein tiefes Loch bin ich nicht gefallen“, sagt der Brandenburger, der im Havelland lebt. Er wirkt gar nicht verbittert, eher fröhlich-entspannt.

Es sei einfacher mit der Krankheit umzugehen, wenn klar ist, dass man nichts falsch gemacht hat, sagt er. Gleichwohl gibt es bittere Momente. Etwa in der vergangenen Woche, als er seinen Führerschein freiwillig abgegeben hat. „Damit verschwindet ein Stück Unabhängigkeit“, bedauert Feldmann.

Den grauen Star haben die Ärzte der städtischen Augenklinik inzwischen operiert. Mit den neuen künstlichen Linsen ist die Sicht besser, Marcell Feldmann erträgt helles Licht wieder. Doch der Tunnelblick bleibt, das Sichtfeld ist mit 10 Prozent stark eingeschränkt. Seine Sehkraft liegt bei 40 Prozent. Bliebe es doch nur dabei.

Marcell Feldmann bereitet sich auf ein Leben ohne Augenlicht vor. Das Haus, das er baut, wird behindertengerecht gestaltet sein. Und einmal in der Woche übt er mit einem Mobilitätstrainer, wie er sich eines Tages als nicht sehender Mensch in Brandenburgs Straßen zurechtfindet. (Von Jürgen Lauterbach)

Das Usher-Syndrom
Das Usher-Syndrom ist eine Hörsehbehinderung. Die Vererbung verläuft „autosomal rezessiv“. Das Kind kann also nur erkranken, wenn beide Eltern Träger des Erbdefekts sind. Die Krankheit kann mehrere Generationen überspringen, bevor sie wieder zum Ausbruch kommt. Die statistische Wahrscheinlichkeit, von der Erbkrankheit betroffen zu sein, liegt für die Nachkommen bei 25 Prozent. Marcell Feldmanns Geschwister sind nicht am Usher-Syndrom erkrankt.

40 Syndrome sind bekannt, Fachleute unterscheiden drei Usher-Typen. Beim schwersten Verlauf sind die Kinder von Geburt an taub. Zur früh einsetzenden Schwerhörigkeit kommt später die Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes bis zum „Tunnelblick“. Patienten sehen links und rechts schwarz.

Von 100 000 Einwohnern haben drei bis sechs das Usher-Syndrom.

 

Quelle: Märkische Allgemeine 20.10.2010

 

 

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