Albrecht von Graefe (1828-1870)

Exceptionelles Verhalten des Gesichtsfeldes bei Pigmententartung der Netzhaut

Aus: Archiv für Ophthalmologie 4 (1858), II., S. 250-253

Die functionellen Störungen bei Pigmententartung der Netzhaut sind so charakteristisch, dass wir in der Regel den ophthalmoscopischen Befund mit Sicherheit voraussehen können. Es ist besonders die, schon in den ersten Perioden des Uebels hervortretende, Nachtblindheit in Gemeinschaft mit der concentrischen Verengung des Gesichtsfeldes, welche das characteristische Symptomgefüge constituirt. In Betreff der letzteren ist noch besonders hervorzuheben, dass, verhältnissmässig zu den geringen Dimensionen des Gesichtsfeldes, das centrale Sehen lange Zeit gut erhalten bleibt, so dass Individuen, deren Gesichtsfeld bis auf eine Oeffnung von 15º, 10º und darunter reduziert ist, noch häufig feine Schrift lesen. Es ist dies von differentiell-diagnostischer Wichtigkeit im Vergleich mit Cerebral-Amaurosen, bei welchen in der Regel bedeutende Verengungen des Gesichtsfeldes bereits von einer namhaften Herabsetzung der centralen Sehschärfe begleitet werden. Amaurosen mit Sehnervenexcavation zeigen allerdings zuweilen auch bei sehr vorgerückter Verengung des Gesichtsfeldes noch eine gute centrale Sehschärfe. Allein ich habe dann nur höchst ausnahmsweise (2 oder 3 mal) beobachtet, dass das Gesichtsfeld concentrisch verengt war; in allen übrigen Fällen hatte es eine schlitzförmige Form und zwar so, dass der Fixirpunkt in der Nähe der innern Grenze des Schlitzes lag.

[251] Neuerdings sind mir zwei Fälle von Pigment[ent]artung der Netzhaut vorgekommen, in welchen das Gesichtsfeld eine höchst eigenthümliche Form darbot, wie ich sie bisher nur bei Amblyopien aus extraocularer Ursache gesehen habe. Das centrale Sehen war gut erhalten, nächst dem Fixirpunkt ein kreisförmiger Bereich von (6o resp. 20ª Oeffnung, innerhalb dessen ebenfalls die Sehschärfe sich relativ gut erwies. Um diesen Bereich herum befand sich eine ringförmige Zone, innerhalb der jede Wahrnehmung fehlte, und jenseits der das excentrische Sehen in dem einen Falle wieder vollkommen gut, in dem anderen mässig herabgesetzt war Die Form glich demnach mit etwas veränderten Dimensionen ganz derjenigen, welche ich (Archiv für Ophthalmologie Bd II. 2. [1856] S. 274 und 275) für einen Fall von cerebraler Amblyopie abgebildet habe.*) Nachtblindheit war in dem ersteren Falle nur in sehr untergeordnetem Grade, wohl aber in dem zweiten vorhanden, in welchem auch bei Abendbeleuchtung das jenseits des fehlenden Ringes befindliche excentrische Sehen sehr schwach war. In dem ersteren Falle entsprach der ophthalmoscopische Befund ungefähr dem Gesichtsfeld, nur war die von Pigment freie centrale Partie relativ grösser als der für das scharfe Sehen erhaltene centrale Gesichtsfeldabschnitt. Nicht dasselbe kann ich für den zweiten Fall behaupten. Denn einmal waren schon in geringerem Abstand von der macula lutea, als aus dem Gesichtsfeld hervorging, Pigmentirungen nachweisbar und sodann grenzten sich dieselben in keiner Weise dem Ringe entsprechend nach [252] aussen ab, sondern gingen an verschiedenen Stellen, besonders nach aussen, bis in die äquatorialen Theile. Die Beschaffenheit der Pigmentirungen war durchaus die typische. Auch der Sehnerv zeigte ganz die gewöhnlichen Eigenschaften, wie bei Pigmententartung der Netzhaut. Er sah in beiden Fällen etwas weisser aus, dessen Substanz war bis zur Oberfläche der Papille matt-weiss getrübt, der Umfang besonders nach der Breite etwas verkleinert und die arteriellen Stämme sowohl absolut, als hauptsächlich in Verhältniss zu den Venen, verdünnt.

Ich würde es nicht der Mühe werth gehalten haben, diese vereinzelnten Beobachtungen zu veröffentlichen, wenn mir dieselben nicht für die Lehre dieser Krankheit von Interesse schienen. Dass die Pigmentumwandlung, die den Netzbautgefässen folgt, zur Atrophie des Gewebes und zur Functionsaufhebung führt, ist wohl verständlich; aber sehr schwer zu deuten ist eine solche ringförmige Functionsaufhebung, wenn wirklich dem ganzen Uebel eine vom Gefässapparat ausgehende Atrophie zu Grunde liegt. Man begreift es in der That nicht, wie hier die peripherischen Theile wieder zur Leitung kommen sollen, wenn die Gefässtragenden, als leitend angenommenen, inneren Netzhautlagen durch die Pigmentablagerung zerstört sind. Wir hoffen hier auf weitere Aufschlüsse Seitens der pathologischen Anatomie, nachdem die neulich von Donders gegebenen überall dankbar begrüsst worden sind.

Ein erbliches Vorkommen der fraglichen Krankheit hat sich bei weiterer klinischer Beobachtung zwar keineswegs constant aber doch in vielen Fällen herausgestellt. Eine interessante Beobachtung der Art machte vor einiger Zeit Dr. Alfred Graefe bei einem in meiner Poliklinik verkehrenden Patienten. Derselbe war taubstumm und mit Pigmententartung der Netzhaut behaftet. Von [253] dessen vier Geschwistern waren ebenfalls Zwei (Brüder) taubstumm und mit dem fraglichen Augenübel behaftet, während die zwei Anderen ein vollkommen gutes Gesicht und Gehör besassen. Besonders wichtig wäre es zu wissen, ob bei solchen Patienten auch in den Ausbreitungen des nervus acusticus Pigmententartung zugegen ist. Leider giebt eine von Mackenzie (in dessen Lehrbuche, traduction franqaise par Laugier etc. pag. 648) citirte Obduction hierüber keinen Aufschluss. Dieselbe betrifft einen Patienten, welcher an Taubstummheit und angeborener (?) Nachtblindheit litt, und von dessen Netzhaut es heisst: ,,eile contenait dans sa substance de nombreuses taches noires, qui s'accordaient bien avec la déscription, que donne Walther." [sie enthielt in ihrer Substanz zahlreiche schwarze Flecken, die gut mit den Beschreibungen Walthers übereinstimmen.]

Der so ausserordentlich langsame, aber wie es scheint gleichförmige Verlauf dieser Krankheit, das Wesen der anatomischen Veränderung, nämlich die innige Verbindung der Pigmentablagerung mit der Nerven-Atrophie, die circumscripte Abgränzung eines noch gut erhaltenen Gesichtsfeldabschnittes gegen den Defect und endlich das häufige hereditäre Vorkommen, das Alles bestätigt wohl zur Zeit die Ansicht, dass es sich hier um eine tiefwurzelnde trophische Störung handelt, gegen welche wahrscheinlich die Therapie für alle Zeit ohnmächtig bleiben wird.

*) Jener Fall ist noch immer in meiner Beobachtung. Die centrale Sehschärfe ist auch jetzt ungeschwächt, aber der dunkle Ring dem Centrum näher, dessen Breite grösser und das excentrische Sehen ausserhalb desselben bedeutend schwächer, bei Abendbeleuchtung vollkommen defekt, wodurch zur Zeit exquisite Nachtblindheit bedingt wird.

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