Friedlieb Ferdinand Runge (1794-1867)

von Dr. Hans-Jürgen Krug

Hauswirtschaftliche Briefe

(herausgegeben in drei Lieferungen zu je einem Dutzend; erstes und zweites Dutzend 1866 in Berlin, das dritte Dutzend 1867 in Oranienburg.)

Hauswirtschaftlicher Brief Nr. 36

(letzter Brief des 1867 in Oranienburg erschienenen dritten Dutzend) [1]

Mein Besuch bei Goethe im Jahre 1819

Schon oft bin ich gefragt worden, ob ich der Runge sei, von dem Goethe im zweiten Band seiner Schriften, Stuttgart bei Cotta 1837, S.619 sagte: "Sodann lernte ich noch einen jungen Chemikus, Namens Runge, kennen, der auf gutem Wege zu sein schien."
Allerdings bin ich dieser Runge, und ich gewähre gern die Bitte meiner Freunde und besonders meiner Freundinnen genauere Auskunft über die für mich ewig denkwürdige Zusammenkunft mit dem großen Manne zu geben.

Im Jahre 1819 war ich von Hamburg aus nach dreijährigem Aufenthalt in Berlin und in Göttingen nach Jena gegangen, um hier in Natur- und Heilkunde mein Wissen zu vermehren und womöglich meinen Doktorhut zu erwerben. [2] In der fröhlichsten Stimmung trat ich in das liebe Jena ein, mit meinem Ränzel auf dem Rücken. Damals reisten wir Studenten noch wie die Handwerksburschen zu Fuß und sicher viel gemütlicher als jetzt mittels der Eisenbahn. Als ganz unbekannt, schaute ich mich nach jemand um, der mir über Wirtshaus oder Wohnung irgendeinen Aufschluß zu geben imstande sei. Da trat mir eine derbe, untersetzte Burschengestalt entgegen, mit andalusischer Gesichtsfarbe, feurigen dunkelbraunen Augen und ebenso gefärbtem Haar. Und antwortete mir auf meine höfliche Frage:
"Du findest eine gute Wohnung dort in der Unterlauengasse bei der Witwe Starke. Ich wohne ihr gerade gegenüber und das Haus daneben hat früher Fichte bewohnt. [3] " Ich trat in die bezeichnete Wohnung ein. Eine freundliche Nichte der Witwe Starke namens Röse  empfing mich und nach einer Viertelstunde war ich Mitbewohner des Hauses.

Am Abend des folgenden Tages empfing ich den Besuch von meinem Gegenüber-Nachbar, der Tags vorher mein Wegweiser gewesen.  Er bekannte sich als Anbetling der Gottesgelehrtheit und nannte sich Sand. [4] Derbei erkannte ich in ihm einen Eiferer, die Stockgelehrten sagen dazu Zeloten, der meine naturwissenschaftlichen Einwände gegen seine allzu rechtgläubigen, die Stockgelehrten sagen: überorthodoxen Anschauungen zwar mit Milde und Duldsamkeit, aber auch mit Gründen seiner innigsten Überzeugung bekämpfte. Wir konnten uns nicht einigen. Er kam nur noch einige Male wieder. Dann verlor ich ihn aus dem Gesichte und andere Bekanntschaften machten sich. Aber nie sind diese imstande gewesen, das herrliche Bild dieses biedern, überzeugungsfrommen Jünglings das von ihm in meinem Innern war, zu verdunkeln oder zu trüben, auch dann nicht, als die Kunde seiner grässlichen Tat der Ermordung Kotzebues nach Jena kam. [5] Alles sah sich erstaunt an und sprach seine Bewunderung aus, so dass es im ersten Augenblick klar war, dass er unter der Burschenschaft seine Mitschuldigen hatte. Eine fassliche Ansicht hatte ihn geleitet: Der Verfasser liederlicher Schauspiele erschien ihm als der Erzfeind Deutschlands und er sah das Heil Deutschlands in seiner Beseitigung. Er wurde, wie es das Gesetz erheischte, als gemeiner Mörder gerichtet. Aber die Nachwelt hat längst entschieden, dass er ein im Irrwahn befangener Mensch war. Dieser Sand nun, mein erster Wegweiser und Ratgeber in Jena, leitete mich auch von vornherein auf die rechte Fährte, indem er mich bei Döbereiner einführte dem berühmtesten Scheidekünstler damaliger Zeit. [6]  

Döbereiner hatte eben seine Arbeiten über das Platin und die Platinmetalle begonnen, die ihn fünf Jahre später zu einer der glänzendsten Entdeckungen führten, die noch heute als sogenanntes Döbereinner’sches Feuerzeug ihre Nützlichkeit belegt. [7] Aber das wahrhaft wunderbare, das sich in demselben zeigbar in Flammenschrift ausspricht, ist nahe daran, wie eine Alltäglichkeit geringschätzig betrachtet zu werden. Und doch ist es ein kleines Wunder, das Döbereiner damals zur Welt brachte. Er ließ den leichtesten Stoff, den man kennt, das Wasserstoffgas, auf den schwersten Stoff, den man damals kannte, das Platin einwirken, und das Ergebnis war: Feuer, Glut und Flamme. So etwas war noch nicht dagewesen. Dass heftige Reibungen Feuer geben, wusste man längst. Das aber Stoffe durch bloße kalte Berührung in eine so gewaltige Hitze geraten können, dass Glut und Flammen die Folge sind, das war neu.

Man kann sich leicht denken, was ein Mann wie Döbereiner auf mich für einen Einfluß hatte. Ich stellte mich ihm als Schüler vor, in der Erwartung, einen Lehrer zu finden, ich fand mehr: ich fand einen Freund. Meine chemischen Untersuchungen zu Giftpflanzen, die ich schon in Göttingen begonnen hatte, gedachte ich in Jena zu vollenden und legte Döbereiner die bis dahin gewonnenen Ergebnisse vor. [8) Er war freudig erstaunt, als ich ihm sagte, dass ich nicht nur imstande sei, das Giftwirkende des Bilsenkrautes, der Tollfrucht und des Stechapfels für sich als einzelne Stoffe herzustellen, sondern auch das Mittel gefunden habe, das Vorhandensein dieser Giftstoffe in Speisen und Getränken und in den damit vergifteten Tieren und Menschen nachzuweisen. Nachdem ich Döbereiner meine vielfältigen Versuche beschrieben hatte, erkannte er um so mehr ihre Wichtigkeit, als er sich früher selbst vergeblich bemüht hatte, die Schuld oder Unschuld eines Menschen zu beweisen, der angeklagt war, jemand mit dem Aufguß von Stechapfelsamen vergiftet zu haben. Man fing nämlich damals schon an, sich anderer Gifte als der metallischen zu verbrecherischen Zwecken zu bedienen. Die Chemie war in der Kenntnis der Mittel und Verfahrensarten, die giftigen Salze des Arseniks, des Quecksilbers und vieles mehr aufzufinden. Soweit fortgeschritten, wird ein Vergiftungsfall mit denselben nie mehr unentdeckt bleiben.
Der deshalb befragte Scheidekünstler konnte stets mit Bestimmtheit ja oder nein sagen. Nicht so war es mit den pflanzlichen Giften. Hier war in der Wissenschaft noch alles dunkel, und in dieser Dunkelheit konnte der Verbrecher ohne Gefahr sein Wesen treiben. Das Giftpflänzchen wuchs ihm von selbst zu. Der Stechapfel steht an allen Zäunen und die Überführung der Schandtat war unmöglich weil man die Mittel nicht wußte, den Giftstoff mit der Gewißheit und Bestimmtheit zu erkennen, wie es zum Beispiel bei Arsenik der Fall ist.

Ich bewerkstelligte dies nun vor den Augen Döbereiners, Nach unserer Verabredung stellte ich mich zu dem Ende am anderen Tage bei ihm ein, um die Probe abzulegen und meine Angaben zu bewahrheiten.
"Hier sind zwölf Arzneifläschchen", sagte er, "mit den Aufgüssen von ebengleich vielen verschiedenen Pflanzen, die ich Ihnen nicht erst zu nennen brauche. Es sind allbekannte Pflanzen, aber ein Aufguß ist darunter von Stechapfel, und diesen sollen sie mir herausfinden. Geruch, Geschmack und Aussehen führen, wie Sie wohl wissen werden, zu nichts, und andere Mittel leisteten mir bisher ebenso wenig."
"Haben Sie", bemerkte ich "sich das Fläschchen gemerkt, worin der Aufguß des Stechapfels sich befindet?" - "Ja, auch kenne ich den Inhalt der anderen genau, denn jedes Fläschchen hat seine Nummer."

Ich ging nun ans Werk, indem Göbereiner sich mit etwas anderem beschäftigte. Schon nach anderthalb Stunden war ich imstande, ihm die Flasche mit dem Stechapfelgifte zu bezeichnen. "Es ist die Nummer sieben", sagte ich, und ein Nachsehen in seinem Verzeichnisse bewahrheitete meinen Anspruch. Da ich mich während des ganzen Vorganges in einem anderen Zimmer befand, und Döbereiner gar keine Spuren von irgend einer Untersuchung  vorfand, so fragte er verwundert nach den Hilfsmitteln derer ich mich bedient. Ich zeigte auf drei junge Katzen, die lustig im Zimmer herumsprangen und sagte: "das sind meine Entdeckungsmittel! "Das junge Mädchen, bei der sie in Pflege waren, und die sie mir zur Stelle geschafft hatte, griff nun eine nach der anderen. Ich nahm sie und drehte den Kopf dem Tageslichte zu, so dass beide Augen dieselbe Beleuchtung erhielten. An den Augen der ersten Katze war nichts Auffallendes zu sehen. In der gelben Regenbogenhaut erschien das Sehloch in Form einer schmalen spalte, wie man das unter den gleichen Umständen bei jeder Katze sieht. Bei der nächsten Katze verhielt sich alles in gleicher Weise, nur bei der dritten Katze aber war es anders. Gleich auf den ersten blick bemerkte man einen gewaltigen Unterschied zwischen beiden Augen. In dem einen war das Sehloch wie oben beschrieben eine schmale spalte, in dem anderen dagegen eine runde Öffnung von der Größe eines Sechsers. Nach einiger Zeit nahm diese Erweiterung noch weiter, und zwar so zu, dass zuletzt von der gelben Regenbogenhaut fast nichts mehr zu sehen war.
"Nun ist mir alles klar", sagte Döbereiner, "hier ist die Wirkung des Stechapfelgiftes. Es hat die Schließmuskeln der Regenbogenhaut gelähmt. Sie können sich nicht mehr zusammenziehen dem Lichte gegenüber. Daher die Erschlaffung und Erweiterung. Wie aber kommt es, dass nur das eine Auge ergriffen ist?" -  "Weil nur dieses mit dem Gift in Berührung gebracht wurde. „ „Ich habe das Gift dem Tier nicht eingegeben, sondern nur einen Tropfen von dem Aufguß mittels einer Binde in das eine Auge gewischt. Nur so ist man imstande, die Wirkung genau zu beurteilen, und auch eine verhältnismäßig nur schwache zu beobachten, indem dabei das unveränderte Sehloch des gesunden Auges als Maßstab zur Vergleichung dient." - "Was haben Sie mit den Katzen gemacht, deren Augensterne unverändert sind?" - "Der einen habe ich aus der Flasche Nr. 1 und der anderen aus Flasche Nr. 2 einige Tropfen in je eines der Augen gewischt. Es ist keine Wirkung erfolgt, woraus ich schließe, dass von dem Giftstoff der drei oben genannten Pflanzengattungen, bilse, Tollfrüchte, Stechapfel, nichts drinnen ist." - "Sie haben recht", sagte Döbereiner, "Die eine enthält Erbsensaft, die andere einen Sud von Spinatpflanzen. Hiernach würde man also mit Hilfe des Katzenauges erfahren können, ob zufällig oder absichtlich ein Spinatgericht Blätter von jenen Giftpflanzen enthält, was um so wichtiger wäre, da viele der schändlichsten Giftmischereien sich in form von Spinat so leicht ausführen lassen." - "Allerdings", erwiderte ich, "und der Versuch zum Beweise der Richtigkeit Ihrer Voraussetzung ist halb gemacht. Wenn sie wollen, sogleich. "

Ich ging nun aus dem Jenaer Pflanzengarten einiges Bilsenkraut holen. Döbereiner hatte indes Spinatblätter besorgt, und nun bereiteten wir einen Spinat nach gewöhnlicher Art, nur mit dem Unterschied, dass auch mit den Spinatblättern ein Bilsenkrautblatt genommen wurde. Nachdem die Blätter sorgfältig gewaschen mit siedendem Wasser abgebrüht und klein gehackt mit etwas Fleichbrühe und Schmalz dazugegeben wurden, wurde das Ganze so vollständig gar geschmort, als wenn es im Ernste gespeist werden sollte. Während dieser Zeit hatte ich in das Auge einer der Katzen etwas von dem Brühwasser des Krautgemenges gebracht. Da grüne Pflanzenblätter beim Brühen mit heißem Wasser eine bedeutende Menge ihres Saftes von sich geben, so musste in das Wasser auch Saft vom Bilsenkraut übergegangen und folglich durchs Katzenauge zu entdecken sein. –Wir wurden in unserer Erwartung nicht getäuscht, denn es stellte sich bald eine sehr bedeutende Erweiterung des Sehlochs ein. Ich bewies deutlich genug den Übergang des Bilsengiftstoffes in das Brühwasser. "Vielleicht", sagte Döbereiner, "finden wir nun nichts im Spinatgericht, wie man ja auch Giftschwämmen ihr Gift durch siedendes Wasser entziehen kann." - " Dann muß es aber gründlichst zum wiederholten Mal geschehen. Hier haben wir nur einmal nur rasch gebrüht und sicher werden wir im fertigen Spinatgericht noch viel Gift auffinden." Dies war denn auch in der Tat der Fall. Es wurde etwas vom fertigen Spinatbrei in ein kleines Töpfchen gegeben und stark ausgepresst. Vom gelbgrünen Saft wurde nach sorgfältiger Abnahme des Fetts ein wenig in das Auge der ersten Katze gebracht. Es dauerte nicht eine halbe Stunde, so zeigte sich die Wirkung durch Verwandlung der schmalen Sehspalte in ein großes rundes Sehloch. Ich hatte die Genugtuung, dass Döbereiner mir seinen ganzen Beifall zollte, und mir beim Abschied dankte für die höchst belehrenden versuche. "Sie sind von der höchsten Wichtigkeit", sagte er, "und noch heute Abend werde ich Goethe davon erzählen."

„Goethe, Goethe!“ dachte ich, als ich nach Hause ging, in Begleitung meiner drei Kätzchen, die das Mädchen in der Schürze hatte. „Dem Goethe will er von meinen Giftversuchen erzählen. Wird dieser Mann Sinn haben für etwas, was wohl einen Polizeimann entzücken, einen gestrengen Richter begeistern konnte . Aber der Schöpfer des Faust verweist Dich mit Deinen Katzen in die Hexenküche und damit gut.
Wie hatte ich mich geirrt! Schon am anderen Tage Nachmittag stand Döbereiner unter meinem Fenster und rief zu mir hinauf: "Ich habe nicht lange Zeit, aber ich komme in einer für Sie wichtigen Angelegenheit. Ich war bei Goethe, sprach ihn gestern und sprach ihn jetzt. [9] Er will sie durchaus kennenlernen und Ihre Versuche selbst sehen. Gehen sie hin! Morgen Nachmittag erwartet er Sie. Versäumen Sie es ja nicht. Eine solche Gelegenheit kommt alle hundert Jahre nur einmal vor."
Ich kann nicht leugnen, dass nach diesen Worten ein ganz eigenes Beben durch mein junges Wesen durchrieselte.

Ich kannte bis dahin von Goethe's Leistungen nur weniges, aber seinen "Faust" wußte ich auswendig, und dies war übergenug, den unschätzbaren Wert des Wunsches dieses Mannes zu würdigen, der sich herabließ, einem unbedeutenden Studenten, mit seiner Katze unter'm Arm, Audienz zu geben. Und so war es denn auch buchstäblich. Als ich Nachmittag im entliehenen schwarzen Frack (damals eine Seltenheit in Jena), mit einem auf gleiche Weise angeschafften Philisterhut und meiner Katze unterm Arm über den Marktplatz schritt, wurde ein allgemeiner Aufstand. [10] Die Burschen, die gruppenweise herumstanden, kehrten auf den Ruf: "Dr. Gift" sich plötzlich gegen mich und vertraten mir in meinem höchst abenteuerlichen Aufzuge den Weg. "Laßt mich zufrieden", sagte ich mit einem Ernste, wie er mir in späteren Jahren nie wieder gelungen ist, zu zeigen, "ich habe einen wichtigen Gang, ich gehe zu Goethe!"

Man ließ mich gehen, ohne auch nur einen schlechten Witz mir nachzurufen. Ich verdankte dies teils der allgemeinen Beliebtheit, der ich mich als "lustiger Bursch" erfreute, teils aber auch dem Spitznamen "Dr. Gift", weil man wußte, daß ich immer in Giftpflanzen wühlte und eifrigst bestrebt war, etwas Nützliches zu leisten. Ein eifriges Streben wird, wenn es auch lächerliche Seiten darbietet, selten verhöhnt. Der Dr. Gift war also eigentlich kein Spitzname, sondern ein Ehrentitel für mich.
Zu meinem Glücke wußte ich gar nicht, daß Goethe Wirklicher Geheimer Staatsminister war, und hatte auch, obgleich man mir gesagt hatte, ich müsse ihn "Excellenz" nennen, gar keinen Begriff von dem, was man Hofzwang oder Etikette nennt. Ich trat also, nachdem ich mich dem Kammerdiener zu erkennen gegeben, mit größter Ungezwungenheit in's Empfangszimmer ein, in welchem bald darauf auch G o e t h e erschien.
Wie unser Willkommen gewesen, kann ich nicht sagen. Die schöne, hohe, mächtige Gestalt trat mir mit einem so überwältigenden Eindruck entgegen, daß ich ihm zitternd die Katze hinreichte, gleichsam, als wollte ich mich damit verteidigen.

"Ach so", sagte er, "das ist also der künftige Schrecken der Giftmischer? Zeigen Sie doch!"
Ich bog nun den Katzenkopf so, daß die Tageslicht-Beleuchtung beide Augen gleichmäßig traf, und mit Erstaunen bemerkte Goethe den Unterschied an beiden Augen: neben der schmalen Spalte in dem einen Auge fiel das große runde Sehloch in dem andern um so mehr auf, da vermöge einer etwas starken Gabe fast die ganze Regenbogenhaut sich zurückgezogen hatte und unsichtbar war.
"Womit haben Sie diese Wirkung hervorgebracht?", fragte Goethe. - "Mit Bilsenkraut, Excellenz! Ich habe den unvermischten Saft des zerstampften Krauts in's Auge gebracht, darum ist die Wirkung so stark." - "Döbereiner hat mir gesagt", bemerkte Goethe, "daß die Arten der Gattung Belladonna und Datura auf ganz gleiche Weise wirken, wie die von Hyoscyamus, und das Sie gefunden haben – der das Auge so sehr verändernde Stoff – befinde sich in allen Teilen der Pflanze, von der Wurzel bis zur Blüthe, Frucht und Samen.
Wie verhält es sich mit anderen Pflanzen, besonders solchen, die eine verwandtschaftliche Gestalt haben?"

"Ein mir befreundeter Arzt, Dr. Carl Heise, hat, veranlaßt durch die auffallende Wirkung der genannten Pflanzen, eine sehr umfassende Arbeit unternommen und durchgeführt, und dadurch bewiesen, daß nur die Pflanzen der drei oben genannten Gattungen eine den Augenstern erweiternde Kraft besitzen. Alle anderen Pflanzen, deren er unzählige in ihrer Einwirkung auf's Katzenauge versuchte, zeigten sich völlig wirkungslos, ausgenommen einige, die aber das Gegentheil bewirkten, nämlich eine Verengerung oder Verkleinerung des Sehlochs, z.B. Aconitum [11]."

"Ei", sagte Goethe, "da könnte man ja auch auf diese Weise das echte Gegenmittel gegen die schädlichen Wirkungen der Tollkirsche u.s.w. entdecken. Versuchen Sie dies doch einmal und lassen Sie von den beiden entgegengesetzt wirkenden Pflanzen nacheinander oder gleichzeitig etwas auf's Katzenauge einwirken, und beobachten Sie den Erfolg. Die Sache hat ihre Schwierigkeit, aber Sie werden sie schon überwinden. Nun sagen Sie mir aber, wie sind Sie auf diese eigentümliche Art von organischer Chemie gekommen?"

Diese Frage hatte mir schon Döbereiner vorgelegt, aber ich war nicht dazu gekommen, sie ihm ausführlich zu beantworten. Es war mir daher sehr angenehm es hier bei Goethe zu tun, da ich voraussetzen konnte, sie würde seine regste Teilnahme und Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Ich begann nun meine Erzählung:

Im Jahre 1810 wurde ich, ein Pfarrerssohn vom Lande bei Hamburg nach Lübeck gesandt und in die Ratsapotheke in die Lehre getan. Es war eine kriegerisch bewegte Zeit, und Napoleon bereitete seinen Einfall in Rußland vor. Alle irgend Wehrfähigen wurden unter die Fahnen gerufen, und bei der Widerwilligkeit, unter dem Wüterich zu dienen, wurde es immer schwerer, sich einen Stellvertreter zu erkaufen. [12] Durch Empfehlungen meines Oheims hatte ich Zutritt in einige vornehme Familien erhalten, und der Sohn von einer derselben wurde bald mein Freund. Eines Abends kam er in größter Bestürzung in die Apotheke und klagte mir sein Leid, dass er übermorgen sich stellen muß. Und da er ohne alle körperliche Fehler sei, wahrscheinlich Soldat werden müsse. "Ich möchte mir die Hand verstümmeln, um nicht in diesen schändlichen Krieg zu ziehen", seufzte er. - "Das ist nicht nötig", bemerkte ich, "vertrauen Sie mir, ich glaube imstande zu sein, Sie auf ganz kurze Zeit, aber ohne Schaden, zu verstümmeln, so dass man Sie ohne Weiteres laufen lässt." - "Was wollen Sie denn mit mir vornehmen?" - "Ich mache Sie blind, auf 24 Stunden." - "Wie wollen Sie das anfangen?" - "Hören Sie mich: vor etwa acht Wochen hatte ich nach ärztlicher Vorschrift eine Arznei zu bereiten, wo eingekochter Bilsenkrautsaft in Wasser aufzulösen war. Es geschah dies in einer Reibschale, und aus Unvorsichtigkeit spritzte mir ein Tropfen der Auflösung ins Auge. Ich empfand keinen Schmerz und bemerkte anfangs keine Veränderung, bis endlich ein Jucken und Flimmern mich zum Spiegel trieb. Wie groß war mein Erstaunen, als ich die eingetretene Veränderung meines Auges sah! Die Regenbogenhaut war fast gänzlich verschwunden, und das Auge sah genau so aus, wie das eines Menschen, der am schwarzen Star leidet. Auch die Sehkraft war ungemein geschwächt, was ich erst bemerkte, als ich das gesunde Auge schloß. Ich weiß nicht, wie es zuging, daß mich dieser missliche Zustand meines Auges nicht ängstlich machte. Er hielt mehrere Tage an. Endlich aber kam die Sehkraft wieder und mit ihr die naturgemäße Ausbreitung der Regenbogenhaut, so dass nun beide Augensterne wieder gleiche Größe hatten und alles wieder in den vorigen Zustand zurückgesetzt war. Sehen Sie! Eine solche Krankheit will ich Ihnen auf beiden Augen hervorbringen, und es müsste wunderbar zugehen, wenn Sie nicht schon nach oberflächlicher Besichtigung als unbrauchbar zum Dienst entlassen würden." Nach einigen leicht beseitigten Einwürfen entschloß sich mein Freund zu dieser damals gewiß sehr verzeihlichen Betrügerei und rettete dadurch sein Leben, denn von allen, die von Lübeck nach Rußland geschleppt wurden, sind nur wenige wiedergekehrt. [13] Seine zeitweise Blindheit dauerte etwa 36 Stunden. Sie verging schmerzlos und hinterließ auch nicht die geringsten nachteiligen Folgen.
Nachdem Goethe, der seine größte Zufriedenheit sowohl über die Erzählung des durch scheinbaren schwarzen Star Geretteten wie auch über das andere ausgesprochen, übergab er mir noch eine Schachtel mit Kaffeebohnen, die ein Grieche ihm als etwas ganz Vorzügliches gesandt. "Auch dieses können Sie zu Ihren Untersuchungen Brauchen", sagte Goethe. Er hatte recht, denn bald darauf entdeckte ich darin das wegen seines großen Stickstoffgehalts so berühmt gewordene Coffein. [14]  

Nun entließ er mich. Ohne recht zu wissen, wie, war ich zur Tür hinaus und die Treppe hinunter, als G o e t h e mir noch nachrief: "Sie vergessen Ihren Famulus!" und der Diener mir den kleinen Kater in den Arm legte, der während unserer Unterredung ruhig auf dem Sofa gesessen hatte.

So war ich also wirklich bei Goethe gewesen, hatte ein Glück genossen, dessen ganze umfangreiche Bedeutung mir erst klar wurde, als ich beim Nachhausegehen von Bekannten und Freunden mit unverkennbar neidischen Augen betrachtet und mit Fragen bestürmt wurde. Sonderbarerweise fragte man nicht, was G o e t h e eigentlich von mir gewollt und was es mit der Katze für eine Bewandtnis habe, sondern nur, wie er mich empfangen, ob er freundlich oder ernst gewesen, ob er mir einen Stuhl angeboten und dergleichen mehr. Ich konnte über alles dieses gar keine Rechenschaft geben. So vertieft, wie ich in meinen Gegenstand war, und so theilnehmend und aufmerksam Goethe mich anhörte, wie blieb mir da wohl Zeit zur Beobachtung unwesentlicher Nebendinge? Ich habe nichts Schroffes, Abstoßendes bemerkt, worüber so Viele klagen, und was sie sicher selbst verschuldeten. Bei Angaffungsbesuchen, der Plage berühmter Männer, über die sich schon Voltaire beschwerte, mag Goethe oft genug kalt und zurückhaltend gewesen sein. Die Leute brachten ihm Nichts, sie wollten nur empfangen. Ich aber spendete mit vollen Händen und fesselte seinen tief eindringenden, naturforschenden Blick an Dinge, die für ihn ganz neu, und deren Bedeutung ihm doch auf der Stelle klar war. G o e t h e war nicht nur ein Dichter, sondern auch ein sinniger Naturforscher!
Anmerkungen:

[*] Der Chemiker Friedlieb Ferdinand runge ist vor allem durch seine Entdeckung des Anilins und des Phenols aus dem Steinkohlenteer in die Geschichte eingegangen. Diese 1833 in Oranienburg bei Berlin begonnenen Untersuchungen waren der Anstoß für die spätere weltweite Produktion von synthetischen Farben und Medikamenten mit dem aus Teer gewonnenen Anilin als Ausgangsstoff. 1862 wurde ihm für diese Pionierleistung die Preisdenkmünze der Londoner Weltausstellung verliehen.

[1] Text nach der 1988 in Leipzig und Weinheim erschienenen Reprintausgabe aller drei Dutzend der Hauswirtschaftlichen Briefe. Runge hatte die Begegnung mit Goethe aus dem Jahre 1819 erst kurz vor seinem Tode, mit 73 Jahren niedergeschrieben.

[2] Runge hatte im Oktober 1816 nach Abschluss seiner Lübecker Apothekerlehre sein Medizinstudium in Berlin aufgenommen, hatte 1818 das Frühjahrssemester in Göttingen zugebracht und war im Herbst 1818 (nicht 1819) nach Jena gezogen. Am 21. Mai 1819 verteidigte Runge dort seine medizinische Dissertation über den am Katzenauge erbrachten Nachweis des Giftstoffes der Tollkirsche, des Stechapfels und des Bilsenkrautes. Ende 1819 Verließ Runge Jena wieder, um in Berlin weiter zu studieren und seine pflanzenschemischen Studien fortzusetzen. Neben dem ausführlich beschriebenen Besuch am Sonntag, dem 3. Oktober 1819 gab es am 7. Oktober noch einen Abschiedsbesuch bei Goethe, der in dessen Tagebuch ebenfalls kurz vermerkt ist.

[3] Der deutsche Philosoph Johann gottlieb Fichte (1762 – 1814) wirkte von 1794 bis 1799 als Professor in Jena. 1799 musste er Jena wegen des sogenannten „Atheismusstreites“ verlassen, obwohl sich Goethe anfänglich noch schützend vor ihn gestellt hatte. Dies war also schon knapp 20 Jahre vor dem Eintreten Runges in Jena.

[4] Der junge Theologe und Burschenschaftler Karl Ludwig Sand (1795 – 1820) ging im Anschluss an das berühmte Wartburgfest vom 17. – 19. Oktober 1817 nach Jena und setzte dort sein Theologiestudium fort. Wie schon auf dem Wartburgfest verbreitete Sand auf dem Zweiten Burschentag am 18. Oktober 1818 in Jena eine Flugschrift, mit der zur Deutschen Einheit und Freiheit ohne Fürstenherrschaft aufgerufen wurde. Etwa in diesen Oktobertagen müssen die im Text erwähnten Begegnungen mit runge stattgefunden haben.

[5] Karl Ludwig Sand hatte das Attentat auf August von Kotzebue schon im Mai 1818 geplant. Sand verließ Jena im Februar 1819 und reiste über die Wartburg nach Mannheim weiter, wo sich Kotzebue damals aufhielt. Das Messerattentat erfolgte am 23. März 1819 in Kotzebues Wohnung. In einer Kurzschlussreaktion versuchte sich Sand unmittelbar danach selbst das Leben zu nehmen. Er überlebte diese selbst beigebrachten Verletzungen jedoch knapp und musste – stark geschwächt – in den Folgemonaten Untersuchungshaft und Prozess über sich ergehen lassen. Am 20. Mai 1820 wurde Sand unter großer Anteilnahme der Bevölkerung in Mannheim hingerichtet und wurde damit zu einem deutschen Mythos.

[6] Der Chemiker Johann Wolfgang Döbereiner (1780 – 1849) wirkte durch Vermittlung Goethes seit 1810 als Professor für Chemie, Pharmazie und Technologie an der Universität Jena.

[7] Bei dem Döbereiner’schen Feuerzeug wird Wasserstoffgas durch Auflösen eines Zinkstückes in Schwefelsäure erzeugt. Der aus dem Reaktionsgefäß über ein verschließbares Ventil entweichende Wasserstoff reagiert beim Überstreichen des Platinkatalysators schon bei Zimmertemperatur mit dem Luftsauerstoff. Die dabei frei werdende Wärme führt schließlich zum selbständigen Entflammen des Knallgasgemisches.

[8] Runge hatte seine pflanzenchemische Arbeit „De nova methoda beneficium belladonnae, daturae nec non   hyoscyami explorandi“ bereits am 21. Mai 1819 in Jena als medizinische Dissertation verteidigt.  So konnte er Döbereiner seine darin zusammengefassten Ergebnisse sowie die in den Folgemonaten gewonnenen Resultate präsentieren.
Das Giftwirkende in den von Runge untersuchten Pflanzen Tollkirsche, Stechapfel und Bilsenkraut ist jeweils das natürliche (linksdrehende) S-Hyoscyamin, das sich erst bei der Extraktion aus den Pflanzen durch einen inneren Strukturumbau in das allgemein gebräuchliche Atropin umwandelt. (Atropin stellt ein Gemisch aus sowohl links- als auch rechtsdrehendem Hyoscyanum dar.) 1820 wurde es von Rudolf Brandes erstmals isoliert. Atropinhaltige Pflanzen wurden aber schon früher als krampflösendes Medikament  eingesetzt, bevor von Runge die pupillenerweiternde Wirkung entdeckt wurde.

[9] Goethes Tagebuch vom 2. Oktober 1819 vermerkt einen Besuch Prof. Döbereiners  vor der Tischzeit.
Goethe hielt sich vom 28. September bis zum 24. Oktober 1819 in Jena auf. Dies war ein mehrwöchiger Arbeitsaufenthalt auf der Rückreise von seinem alljährlichen Sommerdomizil in Karlsbad zu seinem „Winterquartier“ in Weimar.

[10] Goethes Tagebuch vom 3. Oktober 1819 vermerkt: „Junger Chemikus Runge“ für die Zeit vor 12.00 Uhr. Ein weiterer Besuch Runges wird für den 7. Oktober 1819, wieder für den Vormittag  festgehalten: „Der Chemiker Runge von Hamburg, Abschied zu nehmen.“

[11] Eisenhut. Stark giftige Heilpflanze, die zur Familie der Hahnenfußgewächse gehört.

[12] Napoleon hatte am 22. Juni 1812 Rußland den Krieg erklärt. Die schon vorgerückte Grande Armée überquerte am 24. Juni 1812 den Njemen, der damals die russische Grenze markierte. Die von Runge erwähnte Mobilmachung muss also im Frühjahr oder Frühsommer 1812 stattgefunden haben. Runge war damals 18 Jahre alt.

[13] von jenem Russlandfeldzug kehrten beispielsweise von 2000 Mecklenburgern nur 59 wieder zurück.

[14] Bereits 1819 veröffentlichte Runge in einer Kurzmitteilung seine Entdeckung des Koffeins („Kaffeebase“) und des Chinins (aus Chinarinde, die „Chinabase“): „Über Pflanzenchemie“, in: Isis (hg. Von L. Oken),  S. 317-21 (1819).

Bitte lesen Sie auch den Bericht über die Exkursion 2009 der Berliner Usher-Gruppe

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