Sichtachsen

Orientierungshilfe durch Sichtachsen

Dr. Hans-Jürgen Krug

Bislang wurde nur selten thematisiert, daß unsere degenerative Netzhauterkrankungen nicht nur zu einer allgemeinen, in Prozenten ausgedrückten Abnahme der Sehfähigkeit, sondern auch zu einer nach außen schwer vermittelbaren Neustrukturierung unserer visuellen Wahrnehmung führt. Das gleiche gilt übrigens auch für die akustischen Wahrnehmungen bei Usher-Betroffenen. Der oft noch lange erhaltene Tunnelblick des RPlers macht ihn zwar fast orientierungslos, läßt ihm aber die Lesefähigkeit und bewahrt ihm vor allem die Verfügbarkeit des "Blickes" auf bestimmte Punkte und Richtungen. Jener "Blick"  des gesunden Auges beruht, wie wir wissen,  auf der Konzentration der Photorezeptoren im Bereich des schärfsten Sehens, während die Peripherie der Netzhaut vergleichsweise sparsam mit ihnen bedeckt ist. Eine überall höhere Rezeptorendichte brächte uns einen so intensiven Strom an visueller Information, den unser Sehzentrum gar nicht mehr verarbeiten könnte. Die Fähigkeit, einen Gegenstand unter Ausblendung seiner Umgebung scharf "ins Auge zu fassen", macht das Auge im Gegensatz zum Ohr zu einem aktiven Sinnesorgan.

Den Blick lenken

Nun haben wir durch die RP mit einer ungewollten, pathogenen Ausblendung der Peripherie unseres Sehraumes zu tun. Umgekehrt jedoch wird in der Malerei und in der Architektur bewußt mit einer zusätzliche Fokussierung des Blickes gearbeitet, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Die Bilder Rembrandts erinnern an die uns wohlbekannte Sicht des Nachtblinden, da der Künstler viele Partien  im Dunkeln läßt, um so den Blick etwa auf ein hell beleuchtetes Gesicht zu richten. In der Malerei lassen sich viele Beispiele angeben, wo eine Landschaft nicht als Panorama, sondern im Ausschnitt, durch ein Fenster oder als "Durchblick" durch Hecken oder Bäume gezeigt wird.

Ein ähnliches Prinzip, den Blick in eine bestimmte Richtungen zu lenken, gibt es auch in der Architektur. Das Stilelement der "Sichtachse", von dem die Rede sein soll, wurde im Barock zur Blüte gebracht. Es erlaubte dem Betrachter weite Durchblicke durch eine sonst bewaldete oder bebaute Landschaft, die zum Teil noch heute erhalten sind. Diese Achsen eröffnen sich auch uns RPlern mit Tunnelblick, wenn wir solche barocken Parks oder Stadtanlagen durchschreiten; zusätzlich können sie uns  und uns eine visuelle Orientierung im Sinne von Leitlinien geben.

Antike Tempelanlagen waren so angelegt, daß ihre Symmetrieachse mit der Blickrichtung oder mit dem Prozessionsweg auf ein am Endpunkt stehendes Heiligtum zusammenfiel. Solche Achsen wurden durch eine geeignete Randbebauung zusätzlich betont. Die aus Rom hinausführenden Heerstraßen waren bis zum Horizont bewußt geradlinig angelegt und tragen noch heute zum Achsenbild der Ewigen Stadt bei. Das Mittelalter mit seinen auf engem Raum wachsenden Städten verlegte die antike Prozessionsstraße mit dem Blick auf den Altar in das Innere der Kathedralen. Erst die Renaissance entdeckte wieder die Landschaft und den perspektivischen, aus dem geschlossenen Raum durch Alleen und Kolonnaden zunächst ins Freie führenden Blick. Spätere Endpunkte solcher Achsen in den großen italienischen Parks bildeten sogenannte points de vue, Statuen oder Monumente, auf denen der Blick ruhen sollte.

Blickpunkte

Ende des 16. Jahrhunderts wurde in Rom die Achse in das von den Päpsten neu zu ordnende Stadtbild übernommen. Sixtus V. verband eine Reihe der Hauptkirchen Roms durch eine über viele Kilometer reichende geradlinige Straßenverbindung, die Strada Felice, die durch die auf den Vorplätzen der Kirchen aufgestellten riesigen Obelisken auch visuell betont wurden. Auch auf anderen Plätzen wurden ägyptische Obelisken und Säulen aus römischer Zeit aufgestellt, die als Kristallisationspunkte der städtischen Neugestaltung und als weithin sichtbare Blickpunkte am Ende der auf sie führenden Straßen, etwa der Via del Corso, dienten.

Die Idee der nach Zentren und Achsen orientierten Gestaltung von Städten und Parks breitete sich im Barock über Frankreich mit Versailles als Urbild des barocken Parks auch nach Deutschland aus. Als bekannteste, noch heute so erhaltene sternförmige Stadtanlage mit dem Schloß im Zentrum ist wohl Karlsruhe zu nennen. In der preußischen Mark Brandenburg, in Berlin und Potsdam, gab es die sternförmige Parkgestaltung zuerst in Form der Tiergärten, wo sich im Zentrum der schnurgeraden Alleen oft ein Anstand befand, von dem aus das über die Alleen wechselnde Wild bequem beobachtet und geschossen werden konnte.

Neben den Alleen, die als Jagd- oder Verkehrswege dienten, wurden auch Sichtschneisen mit einer rein ästhetischen Funktion angelegt. Vom Schloß Charlottenburg gab es in Richtung der Parkseite ein symmetrisches Bündel dreier Sichtachsen, deren erste zur Spandauer Zitadelle, die zweite über Tegel zum Schloß Oranienburg  und die dritte zum Schloß Niederschönhausen führte. Daneben reichte eine weitere, 150 m breite und 13 km lange Waldschneise vom Cöllner Schloß nach Spandau, die tatsächlich eine gegenseitige Sicht von Schloß und Zitadelle erlaubte. Ziel dieser barocken Konstruktion war es, eine Landschaft so zu strukturieren, daß in ihr nur fürstliche Schloßanlagen und andere ideale Blickpunkte vorkamen und alles andere Siedlungsbeiwerk sorgsam ausgeblendet wurde. Sichtachsen führten auch bewußt über die natürlichen Grenzen eines Parkes hinaus und sollten die Illusion seiner unbegrenzten Ausdehnung vermitteln.

Sichtachsen in Berlin

In Berlin wurde die bestimmende Achse des Tiergartens, die einst als geradlinige Verlängerung der Straße Unter den Linden angelegte Charlottenburger Chaussee, in den dreißiger Jahren als Aufmarschallee ausgebaut. Auf den Tiergartenstern wurde 1939 die Siegessäule versetzt; von dieser und von anderen erhöhten Punkten aus gewinnt man einen Eindruck von der Dimension dieser Straßenanlage, die im Osten am Schloßplatz beginnt und sich nach Westen in der Weite des Horizontes verliert. Das Rückgrat des Parkes von Potsdam-Sanssouci bildet eine lange Achsenverbindung, die vom Neuen Palais im Westen über eine Kette von drei Fontänen bis zum abschließenden Obelisken im Osten führt. Dieser gerade Hauptweg und Sichtkanal kann, wie andere auch, mit einem Tunnelblick durchmessen und ästhetisch wahrgenommen werden.

Der dem Barock folgende naturnahe englische Parkstil verzichtete auf die geradlinige, auf Blickpunkte führende Weggestaltung, behielt aber ein System scheinbar zufällig arrangierter Sichtverbindungen bei. So besitzt der Weimarer Ilmpark im nördlichen Teil noch seinen barocken Ursprung, dessen Hauptachse von der Sternbrücke aus eingesehen werden kann; im mittleren und südlichen Teil schließt sich jedoch der eine italienische Ideallandschaft nachahmende, noch von Goethe beeinflußte Park an. Durch eine geschickte Aussparung im Baumbestand gab es einst eine heute wieder freigelegte Sichtverbindung vom Borkenhäuschen zum 1,5 km entfernten Oberweimarer Kirchturm. Vom Goetheschen Gartenhaus gibt es eine von den Wegen unabhängige Sichtverbindung zum Römischen Haus Carl Augusts und umgekehrt. Einzelne Denkmäler, wie das Lisztdenkmal, sind über weite Strecken sichtbar aus dem Baumbestand herausgeschnitten. Die Idylle des langgezogenen Ilmparks wird vor allem durch den bewaldeten Saum an den ansteigenden Rändern des Parks bewahrt, die die Sicht auf die übrige Bebauung Weimars verhindern und nur den Blick auf einzelne Gebäude freigeben. Wie im Barock, haben wir wieder die Konstruktion einer Ideallandschaft als Ziel der Gestaltung, in der der Blick auf einzelne Punkte fokussiert, aber alles andere, den idealen Eindruck störende ausgeblendet werden soll.

Sichtverbindungen als Orientierung bei RP

Diese ästhetische Wirkung solcher Sichtschneisen ist uns RPlern mit Tunnelblick nach wie vor zugänglich, ja wir sind für die Wahrnehmung einer solchen Landschaftsarchitektur geradezu prädestiniert. Aber auch für unsere Mobilität und für unser Orientierungsvermögen ist das Vorhandensein geradliniger Wege- oder Sichtverbindungen wertvoll. Am Tage ist es oft noch relativ leicht, sich in häufig aufgesuchten  Gegenden einmal bewußt nach geradlinigen Verbindungen mit Leitliniencharakter umzusehen. Ich habe selbst gestaunt, wie viele durchgehende Achsen es in meinem Wohngebiet, in Parkanlagen, selbst noch auf dem Campus der Berliner TU gibt, die ich zuvor mit meinem über lange Jahre, vor Nutzung des Langstocks,  auf die Erde gerichteten Blick gar nicht wahrgenommen hatte, obwohl ich sie hätte sehen können. Wenn ich nach Einbruch der Dunkelheit die selben Gegenden passieren muß, ist mir das am Tage erworbene Wissen um deren Achsenstruktur - neben meinem Langstock - eine wichtige Hilfe. Oft genügt es, an eine bestimmte Abzweigung zu kommen, um dann mit dem restlichen Sehvermögen "auf einen Blick" ein längeres, machmal über Hunderte von Metern reichendes Wege- oder Straßenstück zu überschauen, das dann zusätzlich durch eine durchgehende Reihe von Laternen oder durch einen beleuchteten Blickpunkt am Ende, dem "point de vue" markiert ist. Durch diese, mit einem Blick geöffnete Bahn sich zu bewegen, bereitet dann nur noch wenig Mühe und erfordert lediglich die Feinorientierung mit dem Langstock. - Was also in früheren Zeiten als ästhetisches Gestaltungsprinzip begonnen wurde und im Straßen- und Wegenetz fortlebte, kann uns heute eine Orientierungshilfe geben. Möglicherweise ist sie noch nicht von jedem entdeckt.

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