Innenansichten einer Usher-Betroffenen

Rosemarie Große-Wilde

Vortrag auf dem Patienten-Ärzte-Wissenschaftler-Symposium der Pro Retina Deutschland e.V. in München am 8.11.2003

Sehr geehrte Damen und Herren, Grüß Gott, liebe Freunde!

Ich habe wie alle Usher-Syndrom-Betroffene eine angeborene Hörschädigung. Was ist eine angeborene Hörschädigung? Das kann Taubheit oder Schwerhörigkeit sein, die auf einer genetisch bedingten Degeneration des Innenohrs beruht. Die Hörschädigung wird, da sie im frühen Kindesalter oder schon mit der Geburt einsetzt, häufig lange Zeit nicht bemerkt, in leichteren Fällen oft erst viele Jahre später. Doch spätestens bei Ausbleiben des Spracherwerbs wird bei stark Schwerhörigen und Gehörlosen erkennbar, dass etwas nicht stimmt.

Wie geht es weiter?

Diese Entdeckung und anschließende Diagnostik lösen bei Familienangehörigen, meist den Eltern, Traumatisierung und Trauer aus. Jahrelange Mühen für das Erlernen von Laut- bzw. Gebärdensprache, des Ablesens vom Mundbild und weitere Frühförderungsmaßnahmen stehen im Vordergrund. Einschulungen in Hörgeschädigten- oder Regelschulen müssen abgeklärt und begleitet werden. Bei mir erfolgte die Einschulung in eine normale Schule und verlief scheinbar weitgehend problemlos, aber bei Diktaten wirkte sich die Hörschwäche besonders aus und ich hatte dann häufig eine tränenreiche Wut auf mein Handicap. Intuitiv entwickelte ich eigene Strategien. Dazu gehörten insbesondere das Ablesen von den Lippen und häufiges Nachfragen und Nachlesen. Als sich das Hörvermögen bei mir nach der Geburt meiner zweiten Tochter deutlich verschlechterte und ich Sprache immer weniger verstand, bekam ich meine ersten Hörgeräte. Das Hören mit den Hörgeräten und vor allen Dingen Sprache verstehen, dazu noch bei Nebengeräuschen, das musste mühsam trainiert werden. Mehrere Audiogramme und verschiedene Geräte mit immer neuen Einstellungen beim Hörakustiker auszuprobieren waren erforderlich, bis ich mich nach etwa drei bis sechs Monaten an die neuen Geräte gewöhnt hatte. Dieses Procedere, außer dem intensiven Hörtraining, wiederholt sich nach sechs bis zehn Jahren bei Anpassung der nachfolgenden Hörgeräte.

Jetzt auch noch Sehprobleme dazu!

Genau in der Zeit meiner ersten Hörgeräte-Anpassung wurden die Sehprobleme wie Gesichtsfeldeinschränkung und Blendung von mir so gravierend wahrgenommen, dass ich daraufhin wieder mal einen Augenarzt aufsuchte. Als er die Diagnose Retinitis pigmentosa - RP - stellte und mich darüber aufklärte, löste diese Mitteilung bei mir Entsetzen und große seelische Schmerzen aus. Hörgeschädigt zu sein hatte schon Beschwernisse und Einschränkungen von Kindheit an bedeutet. Wie alle anderen Hörgeschädigten war ich ein Augenmensch. Die eingeschränkten Hörwahrnehmungen wurden durch die Augen kompensiert und somit hatte ich mich mit der Schwerhörigkeit irgendwann arrangiert. Aber nun das, zu einem Zeitpunkt, wo ich meine hörbedingten Defizite gerade neu auszugleichen im Begriff war. Blind könnte ich wahrscheinlich werden, hieß es. Das war unfassbar und unvorstellbar.

Usher-Syndrom

Nach Therapien und dem Sinn eines Lebens als hörsehbehinderter Mensch begann ich zu suchen, und gelangte auf Umwegen zur Deutschen Retinitis Pigmentosa Vereinigung, so hieß die Pro Retina Deutschland e.V. damals. Das war für mich der Schlüssel zu einem neuen Lebensabschnitt. Hier bekam ich weitere Aufklärung und über den Zusammenhang zwischen der angeborenen Hörschädigung und der RP erfuhr ich erst hier etwas und man nennt es Usher-Syndrom. Dieses Usher-Syndrom tritt in verschiedenen klinischen Untergruppen auf. Von den etwa 5.000 Usher-Patienten in Deutschland sind ca. ein Drittel vom Usher-Typ I betroffen (dieser ist gekennzeichnet durch Taubheit und RP im Kindesalter) und zwei Drittel vom Usher-Typ II betroffen (hier ist Innenohr-Schwerhörigkeit mit RP im Erwachsenenalter kombiniert). In der Pro Retina Deutschland e.V. bilden heute an die 330 Usher-Betroffene ein Forum für den gegenseitigen Austausch von Erfahrungen und Informationen über diese sehr seltene und spezifische Problematik. Der 1991 unter dem Dach unserer RP-Vereinigung gegründete Arbeitskreis Usher-Syndrom erstellte eine Reihe von Broschüren, unter anderem "Usher-Syndrom, was ist das?" welche hier am Info-Stand für Sie ausliegt und in der Sie weitergehende Informationen nachlesen können.

Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit

Jährlich findet ein mehrtägiges Seminar mit Vorträgen statt, das ganz auf die Bedürfnisse der Teilnehmer mit einer Hörsehbehinderung eingerichtet ist. Die Beratung und Begleitung der Betroffenen und deren Angehörigen liegen uns besonders am Herzen. Die aufgebaute Zusammenarbeit mit anderen Verbänden, wie beispielsweise mit dem Deutschen Gehörlosenbund, Hörgeschädigten-Einrichtungen, Blinden- und Taubblindenzentren, bilden heute ein Beratungsnetzwerk von ehrenamtlichen und professionellen Hilfen. Weitere Steigerungen der Aufklärungen zum Usher-Syndrom, versuchen wir durch vermehrte Medien-Beiträge in der allgemeinen und fachbezogenen Öffentlichkeit zu erreichen. Wenn auch der Wunsch nach einer medizinischen Behandlung, sei es durch eine Therapie oder Operation, immer an erster Stelle steht, so benötigen jedoch im Vorfeld einer später möglich werdenden wirkungsvollen rationalen Therapie die Betroffenen Beratung und verständnisvolle menschliche Begleitung.

Früherkennung

Ferner ist die Früherkennung der Behinderung und die rechtzeitige ärztliche und Hilfsmittelversorgung sehr wichtig. Durch Aufklärung in Bezug auf sensorische Defizite und das Neugeborenen-Hör-Screening können heute Hörschädigungen früher erkannt werden. Weitere Verbesserungen wären noch mit einer flächendeckenden und verbindlichen Durchführung des Neugeborenen-Hör-Sreenings zu erreichen. Auch unsere HNO-Ärzte können bei Patienten mit Verdacht auf eine erbliche Hörschädigung durch zusätzliche Nachfragen zu Sehproblemen wie Nachtblindheit, die bei der RP bereits in der Kindheit auftritt, sehr zur Früherkennung eines Usher-Syndroms beitragen. Ebenso die Förderschulen mit dem Einsatz eines Usher-Fragebogens, der in Deutschland bereits entworfen, aber leider noch nicht eingeführt worden ist. Denn die nach der Schulzeit anstehende Berufsberatung würde sich dann nicht ausschließlich auf die Hörschädigung konzentrieren und spätere, durch die einsetzende Sehbehinderung notwendige Berufsumschulungen vermieden werden.

Welchen Beruf mit Usher-Syndrom?

Das Problem der Berufswahl für Usher-Betroffene versucht man heutzutage zum einen mittels Computer-Arbeitsplätzen zu lösen. Auch Berufsbilder aus dem sozialen Bereich, wie z.B. Physiotherapeut, sind vorstellbar. Nach wie vor bin ich der Meinung, soll die Berufsberatung realistisch, aber auch nicht zu einengend sein und die Stärken und Fähigkeiten der Jugendlichen berücksichtigen.

CI - das Cochlear-Implant

Positiv weiter entwickelt haben sich in der Ohrenheilkunde die ärztlichen Behandlungsmöglichkeiten bei Taubheit. Mit dem sogenannten Cochlear-Implant (CI), können spät ertaubte Erwachsene und bei Feststellung von Taubheit im Säuglings- bis Kleinkindalter heute auch diese mit einem CI versorgt werden. Diese Kinder erhalten somit die Chance, die Lautsprache zu erlernen. Dies gilt aber nicht für die in früher Kindheit ertaubten Erwachsenen, da deren Hörbahn sich nicht zu einem später reaktivierbaren Niveau hatte entwickeln können. Sie würden mit Hilfe des CI zwar hören, nicht aber verstehen und sprechen lernen. Wenn man bedenkt, dass heute etwa die Hälfte der Taubblinden Usher-Typ I-Betroffene sind, so können wir davon ausgehen, dass in weiterer Zukunft diese Zahl durch die zunehmende CI Versorgung rückläufig sein wird.

Hörgeräte und Hilfsmittel

Die Versorgung der schwerhörigen Usher-Betroffenen mit den jeweils dem Hörverlust angepassten optimalen Hörgeräten, häufig volldigital, und anderen technischen Hörhilfen wie Zusatzmikrofone, Mikroport- Lichtsignal- oder Vibrationssignalanlagen, Ringleitungen usw. haben heute einen hohen Standard erreicht, der eine durchaus spürbare Reduzierung des permanenten Hör- und Kommunikationsstresses erlaubt. So wie auch hier mit dem Einsatz einer Ringleitung für induktives Hören. Aber ich möchte nicht versäumen daran zu erinnern, dass es sich hier immer nur um Hilfsmittel handelt, mit denen sie kein normales Gehör ersetzen und keine harmonische Einbettung in das soziale Umfeld der gut Hörenden und Sehenden erreichen können. Dies wird ganz besonders deutlich, wenn Usher-Betroffene mit dem Fortschreiten der RP die Fähigkeit verlieren, vom Mundbild des Gesprächspartners ablesen zu können. Um nicht aus der Kommunikation ausgeschlossen zu werden und in die Isolation abzugleiten, ist das Unterstützen von Hörresten mit der immer besser werdenden Rehabilitationstechnik ein Muss.

Gebärden und Lormen

Wo aber die Technik nicht ausgleichen kann, in erster Linie bei den gehörlosen Usher-Betroffenen, müssen andere Methoden zur Kommunikation zu Hilfe genommen werden, wie beispeilsweise das taktile Gebärden und das Lormen. Unsere Seh-Defizite können lange Zeit durch die Versorgung mit optischen und elektronischen Hilfsmitteln, einschließlich Lesegeräten mit Sprachausgabe, ausgeglichen werden. Neben dem Einsatz der genannten Lesehilfsmittel erreichen Usher-Betroffene mit einem frühzeitigen blindengerechten Mobilitätstraining und dem Erlernen lebenspraktischer Fertigkeiten mehr Selbständigkeit und eine verbesserte Lebensqualität. Parallel zu den Fortschritten in der Technik gehen aber auch die Bemühungen der Forscher nach einer ursächlichen Behandlung unserer degenerativen Erkrankung stetig weiter. Mehrere Gen-Orte sind entdeckt, deren Veränderungen für dieses Syndrom verantwortlich sind. Wenn auch in der Forschung noch ein weiter Weg zu gehen ist, so möchte ich die Forscher doch ermutigen, auch weiterhin nach einer Therapie für diese seltene Erkrankung zu suchen. Noch mehr Menschen für das Usher-Syndrom zu sensibilisieren wünsche ich mir, damit die Integration unserer Randgruppe, insbesondere aber auch im Alter, sicher gestellt werden kann.

Meinen Gleich-Betroffenen wünsche ich Kraft und Zuversicht, um sich immer wieder auf neue Lernprozesse einzulassen, um versöhnlich mit Usher umzugehen. Allen, die uns begleiten, möchte ich es mit auf den Weg geben, es lohnt sich. Wir Usher-Betroffenen nehmen sehr viel, aber wir geben auch und wir werden es Ihnen danken und ich danke Ihnen, dass Sie mir zugehört haben.

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