Blinder Mathematik-Student

Die Raumvorstellung eines Blindgeborenen

Dr. G. Wallenberg Aus: Naturwissenschaftliche Wochenschrift 8 (August 1893), Nr. 34, S. 357-359. Ediert von Dr. Hans-Jürgen Krug

Vor einiger Zeit machte die Doktorpromotion eines blindgeborenen Mathematikers – und nicht nur in Fachkreisen – berechtigtes Aufsehen, weil es meines Wissens die erste derartige Promotion an der Berliner Universität war. Da ich nun das Glück hatte, diesen begabten Blinden zwei Jahre hindurch zum Doktorexamen vorzubereiten und in die höheren und höchsten Gebiete der Mathematik einzuführen – ich sage Glück, weil diese Stunden mir oft einen hohen Genuss gewährten –, so wurde ich naturgemäß von allen Seiten gefragt, wie das denn überhaupt möglich gewesen sei, ob man denn ohne direkte Anschauung von etwas komplizierteren Raumgebilden sich eine Vorstellung machen könne. Diese unablässigen Fragen brachten mich auf die Idee, dass es vielleicht dankenswert sei, meine Erfahrungen in dieser Hinsicht zu ordnen und der Öffentlichkeit zu übergeben. Mein ehemaliger Schüler Herr Dr. Meyer hatte die Liebenswürdigkeit, mir das Material zu dieser kleinen Abhandlung vollständig zur Verfügung zu stellen, und wir haben es gemeinsam unternommen, diejenigen Momente zu fixieren, die bei der Bildung der Raumvorstellung eines Blindgeborenen von wesentlicher Bedeutung sind. Wir hoffen durch diese Feststellung ein wenig zur Klärung in dieser Frage – wenigstens bei dem gebildeten Laienpublikum – beizutragen; denn über die Raumvorstellung der Blinden sind unter den Sehenden vielfach recht irrtümliche Anschauungen verbreitet. Insbesondere glaubt man, dass der Blindgeborene sich über die Größenverhältnisse der umgebenden Gegenstände und ihre Anordnung im Raume nicht zu orientieren vermöge. Wir wollen im folgenden nachzuweisen versuchen, dass diese Ansicht jeder Begründung entbehrt und dass die übrigen Sinne, insbesondere der Tast- und Gehörssinn, im Stande sind, durch ihr Zusammenwirken den fehlenden Gesichtssinn fast vollständig – bis auf die Farbenunterscheidung – zu ersetzen. – Dieser Aufsatz ist, um das hier noch einmal zu betonen, für das große Publikum bestimmt; doch wird, wie wir hoffen, auch der Fachmann in diesen Ausführungen manches für ihn Interessante finden.

Wir tun wohl am besten, uns der bewährten Darwin‘schen Methode der Entwicklung zu bedienen, und beginnen mit den Eindrücken, die das blindgeborene Kind von der Außenwelt empfängt. Durch das Betasten der in seiner unmittelbaren Umgebung befindlichen Gegenstände gewinnt es zunächst die Vorstellung einer beschränkten Anzahl von unterschiedenen Formen, indem sich die sukzessiven Empfindungen durch die Einheit des Bewusstseins zu einem einheitlichen Ganzen vereinigen. Eine so gewonnene Vorstellung prägt sich nun allmählich durch das Gedächtnis, gleichsam durch Erinnerungsbilder, so tief in seinem Geiste ein, dass aus der sukzessiven schließlich eine simultane Vorstellung wird, wie sie der Sehende mühelos durch Anschauung gewinnt. Ich möchte hier noch einmal als besonders wichtig hervorheben, dass Blindgeborene wirklich simultane Vorstellungen von Gegenständen besitzen, d. h. dass sie nicht erst jedesmal die durch einen Gegenstand verursachte Empfindungsreihe wieder zu durchlaufen brauchen.

Orientierung und Lernen durch Tasten

Dieser Vorstellungskreis des Blinden beginnt sich mit dem Moment bedeutend zu erweitern, wo er gehen lernt und so im Stande ist, sich in weiterem Umfange willkürlich zu bewegen. Hat er bisher hauptsächlich nur die Formen der Objekte seiner unmittelbaren Umgebung in seinen Bewusstseinsinhalt aufgenommen, so beginnt er jetzt, in einem größeren Raume sich zu orientieren und nicht nur die Größen-, sondern auch die Lagenverhältnisse der Gegenstände zu unterscheiden. Er gelangt zunächst dahin, dass er sich in seiner Wohnung vollkommen zurechtfindet; bald aber ist er auch im Stande, einfachere und bei einiger Intelligenz selbst kompliziertere Wege, im Gedächtnis zu behalten. So entwickelt sich neben dem Raumsinn auch der Ortssinn. Dr. Meyer entsinnt sich deutlich, dass der Weg zur Schule ganz klar vor seinem "geistigen Auge" stand, und er würde denselben ohne weiteres allein zurückgelegt haben, wenn nicht die Gefahr des Überfahrenwerdens ihn daran gehindert hätte. Heute ist derselbe so gut in Berlin orientiert, dass er mir so ziemlich jeden bekannteren Weg, auch nach entfernteren Stadtteilen, zu beschreiben vermag und bei Spaziergängen dem ihn begleitenden Knaben stets die Richtung angibt, der Blinde dem Sehenden. Es könnte dies bei oberflächlicher Betrachtung doch vielleicht manchem wunderbar erscheinen, ist es aber bei näherer Überlegung durchaus nicht, wenn man bedenkt, dass hier nur Richtungen und Lagenverhältnisse in Frage kommen, welche ja der Blinde nach unseren obigen Ausführungen vollständig beherrscht. Es sei hier schon bemerkt, dass bei den Richtungsbestimmungen des Blinden auch das Gehör eine Rolle spielt, indern er die Richtung und Entfernung der Schallquelle in Folge größerer Übung jedenfalls besser abschätzen kann, als der Sehende; doch ist, wie wir uns durch eingehende Versuche überzeugt haben, auch bei dem Blinden eine Täuschung nicht ausgeschlossen.

Wie steht es nun mit Objekten, welche dem Tastsinn nicht unmittelbar zugänglich sind? Da bieten dem Blindgeborenen zunächst der Druck- und Temperatursinn ein erwünschtes Hilfsmittel: er vermag die Anwesenheit von Gegenständen wahrzunehmen, welche nicht direkt von ihm berührt werden, sondern sich in einiger Entfernung (ca. 1 dm) von ihm befinden, selbst bei verschwindend geringen Temperatur- und Luftdruckdifferenzen; die Feinheit seines Gefühls ist hierin nur dem der Fledermäuse zu vergleichen. Dieselbe schützt ihn vor unangenehmen Berührungen und Zusammenstößen und erleichtert ihm auch die Orientierung im Raume.

Wie aber bildet sich der Blinde die Vorstellung von einem Hause, einem Baume etc., überhaupt von Objekten, die er doch niemals selbst vollständig abtasten kann? – Nehmen wir als Beispiel den Baum, so hat der Blinde zunächst Gelegenheit, an einer strauchartigen Pflanze die einzelnen Teile, besonders den Stamm, die Blätter und Blüten durch direktes Befühlen kennen zu lernen und sich von ihren Lagen- und Größenverhältnissen zu überzeugen. Wenn er dann die Dicke eines Baumstammes prüft, tritt nunmehr eine geistige Funktion bei ihm in Kraft, nämlich die des Vergrößerns und Ergänzens: er vergrößert in Gedanken die abgetastete Pflanze und ergänzt in diesem Sinne den Baumstamm zu einem vollständigen Gebilde. Es ist natürlich, dass die so gewonnenen Vorstellungen nicht immer vollständig mit der Wirklichkeit übereinstimmen werden, aber sie werden sich auch niemals allzuweit davon entfernen: davor schützen den Blindgeborenen zunächst Beschreibungen und Erläuterungen; dann aber bietet sich ihm auch zuweilen Gelegenheit, diesen oder jenen Teil des sonst im Ganzen unzugänglichen Gegenstandes durch direktes Betasten kennen zu lernen. Um bei unserem Beispiele zu bleiben, so stellt sieh der Blinde die Blätter und Blüten eines Baumes nicht etwa in riesigen, der Dicke des Stammes entsprechenden Dimensionen vor; denn er weiß z.B. aus Beschreibungen, dass die meisten Bäume als windblütige Pflanzen gerade unscheinbare Blüten besitzen, und hat auch häufiger Gelegenheit, an einem abgebrochenen Ast sich von den Größenverhältnissen der Blätter und Blüten direkt zu überzeugen.

Tast- Druck- und Temperatursinn

Der Tastsinn in Verbindung mit dem Druck- und Temperatursinn setzt aber den Blinden nicht nur in den Stand, die Formen der ihn umgebenden Gegenstände zu erkennen, sondern ermöglicht ihm auch die Wahrnehmung der verschiedenen Stoffe, aus denen dieselben bestehen, Unterscheidung der Qualitäten. Es gibt da für ihn mannigfache fein nuancierte Erkennungszeichen: die Beschaffenheit der Oberfläche, der verschiedene Grad ihrer Rauhigkeit oder Glätte, ihrer Trockenheit oder Feuchtigkeit resp. Fettigkeit; ferner der Härtegrad7 die Wärmeleitungsfähigkeit, Elastizität, Festigkeit und Schwere. So vermag der Blindgeborene nach einiger Übung mit Leichtigkeit Gold und SiIber, Kupfer und Nickel, Marmor und Glas, Stein und Holz, Plüsch und Samt etc. zu unterscheiden.

Orientierung und Gefühle nach Gehör

Das Tastgefühl des Blindgeborenen in bezug auf Form und Stoff der Objekte entwickelt sich allmählich zu einem hohen Grade von Feinheit: er ist später im Stande, jeden Gegenstand, der ihm in die Hand gegeben wird, sofort zu bestimmen. Er vermag anzugeben, wieviel die Uhr ist, und es wird ihm nicht leicht wie unsereinem passieren, dass er dem Kellner statt eines Zehnpfennigstückes ein Fünfzigpfennigstück gibt. Er vermag Pflanzen von einander zu unterscheiden und selbst Büsten, die er abgetastet, wiederzuerkennen. Bei dieser Gelegenheit kann ich es mir nicht versagen, ein wenig auf die Ästhetik des Tastgefühls einzugehen, die bei dem Blindgeborenen naturgemäß mehr ausgeprägt ist, als bei dem Sehenden: Alles Eckige und Kantige empfindet der Blinde als unschön, und so verkörpert ihm z. B. die Kugel den Schönheitstypus in höherem Maße als ein Würfel. Doch ist ihm die Kugel wegen ihrer Eintönigkeit nicht die Vollkommenheit dieses Typus selbst, und so kommt auch er dahin, das Schönheitsideal in einem menschlichen Antlitz zu finden. Er empfindet beim Abtasten eines menschlichen Kopfes wie der Sehende das Unschöne einer niedrigen Stirn, einer zu großen oder zu kleinen Nase, eines breiten Mundes oder hervorstehender Backenknochen als etwas Unangenehmes und würde entschieden der Milonischen Venus vor einem Aztenweibe den Vorzug geben. – Es ist natürlich, dass dieses Gefühl für Formenschönheit bei dem Blinden nicht entfernt so lebhaft wie bei dem Sehenden ist, so dass eine eigentliche Begeisterung für ein plastisches Kunstwerk oder die Schönheit eines Menschen ihm fremd bleibt. Um so intensiver ist sein Schönheitsgefühl in bezug auf das Gehör entwickelt; und so wird auch seine Sympathie oder Antipathie gegen einen Menschen hauptsächlich durch dessen Stimme beeinflusst, die dem Blinden gewissermaßen den Gesichtsausdruck ersetzt. Überhaupt spielt das Gehör, für das Geistesleben des Blinden der wichtigste Sinn, auch bei seiner Auffassung der Außenwelt eine keineswegs untergeordnete Rolle: die durch die verschiedenen Gegenstände verursachten Geräusche, der Klang der Metalle, das Knarren einer Tür, das Rasseln eines vorüberfahrenden Wagens, insbesondere aber die Stimmen verschiedener Menschen sind für ihn vorzügliche Erkennungs- und Unterscheidungsrnittel der ihn umgehenden Objekte und Subjekte.

Nachdem wir gezeigt haben, wie vortrefflich der Blindgeborene sich in der Welt der realen Objekte orientiert, wird es uns nicht schwer fallen, auseinanderzusetzen, dass er auch die idealen, die mathematischen Raumformen vollständig beherrscht. Wir bemerken zunächst, dass der Blinde von irgend einem räumlichen Komplex, sei es ein System mathematischer Körper oder ein Strahlenbündel oder dergleichen, im allgemeinen viel richtigere Vorstellungen erwirbt als der Sehende, weil jener von vorn herein gezwungen ist, denselben wirklich körperlich vorzustellen, während dieser in der Regel eine ebene Figur zu Hilfe nimmt. So erhält auch das blindgeborene Kind von den Himmelskörpern sogleich einen richtigen Begriff und kommt gar nicht erst in die Lage, sich z. B. Mond und Sonne als eine Scheibe zu denken. Dieses rein körperliche Vorstellen ist so intensiv, dass es dem Blinden geradezu schwer fällt, sieh die Zeichnung eines körperlichen Gegenstandes in einer Ebene zu denken. Ein Gebiet bleibt ihm also – auch abgesehen von dem Unterschied der Farben – in der Tat verschlossen, das der Malerei, und er hat von der Luftperspektive einer gemalten Landschaft eben so wenig eine Atmung, als von der stereoskopischen Wirkung eines guten Porträts; dies hängt eben damit zusammen, dass der Tastsinn alles rein körperlich empfindet, während unser Auge, auf dessen Netzhaut sich die Gegenstände projizieren, dieselben zunächst flächenhaft wahrnimmt, also deshalb auch gerade geeignet ist, flächenhafte Zeichnungen umgekehrt in den Raum zu verlegen. Natürlich beschränkt sich dieser Vorstellungsmangel nur auf die Zeichnungen körperlicher, also dreidimensionaler Gegenstände, während geometrische Figuren, die wirklich nur zweidimensionale Gebilde darstellen, der Erkenntnis des Blinden vollkommen zugänglich sind. Von einfachen Figuren, z. B. einem Dreieck oder einem Kreise, ausgehend, gelangt der Blinde bald zur Vorstellung komplizierterer Gebilde und kann demgemäß auch einen geometrischen Lehrsatz verstehen und beweisen, wie ja auch der Sehende einen ihm geläufigen Satz ohne Figur abzuleiten vermag. Gerade in der Geometrie der Ebene, der Planimetrie, ist der Blinde dem Sehenden gegenüber am wenigsten im Nachteil, weil er hier anfangs noch von der Methode der Blindenschrift, welche ihm die Figuren wirklich abzutasten gestattet, nützlichen Gebrauch machen kann, während die Methode bei längeren mathematischen Formeln. wie sie in der Algebra oder Analysis vorkommen, ihrer Umständlichkeit wegen fast vollständig versagt und der Blinde hier lediglich auf das Gehör angewiesen ist. In der Körperlehre, der Stereometrie, ist der Blinde dem Sehenden sogar voraus, weil, wie wir schon bemerkten, die Notwendigkeit, körperliche Gegenstände auch wirklich körperlich zu denken, ihn sogleich zu richtigen Vorstellungen führt, also der Mangel, dreidimensionale Gebilde zweidimensional darzustellen, hier gerade zu einem Vorzug wird.

Aus diesen Erörterungen ergibt sich nun, was auf den ersten Blick nicht einzuleuchten scheint, dass geometrische Betrachtungen dem Blinden im allgemeinen viel leichter fallen als algebraische, sobald die letzteren nicht bloße Gedankengänge und Schlüsse, sondern größere Ableitungen und kompliziertere Formeln enthalten. Der Grund dafür liegt darin, dass die ursprünglich durch den Tastsinn wahrgenommenen Raumgebilde viel leichter in simultane Vorstellungen umgesetzt werden, als die durch das Gehör übermittelten Formeln, und dass simultane Vorstellungen stets eine viel bessere Übersicht gewähren als sukzessive, d. h. solche, die zu ihrer Bildung eine nicht unbeträchtliche Zeit beanspruchen.

Wir sehen jedenfalls, dass die Mathematik dem Blindgeborenen kein verschlossenes Gebiet ist. Nimmt man dazu, dass der Blinde bei seinem nach innen gekehrten, durch die Außenwelt weniger beeinflussten Geistesleben in viel höherem Grade zur Abstraktion befähigt ist und daher auch ungleich intensiver über ein mathematisches Problem nachzudenken vermag, als der durch wechselnde Bilder der ihn umgebenden Objekte fortwährend gestörte Sehende, so glaube ich die Möglichkeit, dass ein Blindgeborener Mathematik studieren könne, welche Dr. Meyer bereits durch die Tat bewiesen hat, auch den in der Einleitung erwähnten Zweiflern begreiflich gemacht zu haben.

Zurück zum Seitenanfang