Die NRW-Studie ist da!

Auszug aus dem Mitgliedermagazin von Leben mit Usher-Syndrom e.V., Stand: Dez. 2013

von Michael Gräfen

Mit einer kleinen zeitlichen Verzögerung wurde die vom Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen in Auftrag gegebene Studie „Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Hörschädigung in unterschiedlichen Lebenslagen in Nordrhein-Westfalen“ unter der wissenschaftlichen Leitung von Herrn Prof. Dr. Thomas Kaul und Frau Prof. Dr. Mathilde Niehaus, beide Universität zu Köln, im August 2013 fertig gestellt.

Herr Prof. Dr. Kaul ist den Teilnehmern des diesjährigen Usher-Seminars in Bad Meinberg bekannt, da er als Gast die Gelegenheit nutzte, mehrere in NRW lebende Betroffene zu interviewen und deren Erfahrungen in die Studie mit einfließen zu lassen.

Am 18.10.2013 fand im oben genannten Ministerium in Düsseldorf die Vorstellung der Studie gegenüber den betreffenden Selbsthilfeverbänden wie „Schwerhörigen- und Gehörlosen-Verband“, „Bundesarbeitsgemeinschaft der Taubblinden e. V.“, „Landesverband der Taubblinden NRW e. V.“, Vertreter der Taubblinden-Assistentenausbildung aus Recklinghausen und „Leben mit Usher-Syndrom e. V.“ statt.

Zu Beginn der Vorstellung wurde nochmal deutlich gemacht, dass es in der Studie lediglich um die Erfassung der vorhandenen (Hilfs-)Strukturen und nicht um eine Bewertung von Qualitäten gehe.

Auch wurden keine eigenen Erhebungen durchgeführt, sondern nur auf die vorhandenen Informationen und Statistiken zurückgegriffen.

Wie bereits in den früheren Berichten zu dieser Studie erwähnt, stellen wegen der weit umfassenden Aufgabenstellung des Auftraggebers die mit einer Hörsehbehinderung und Taubblindheit Betroffenen nur einen Teil des Gesamtwerkes dar.

Nach dieser Studie gehören hochgradige kombinierte Hörsehbehinderung und Taubblindheit zu den komplexesten Behinderungen im Zusammenhang mit Hör- bzw. Sehbehinderung, wobei der spezielle Hilfebedarf je nach Sozialisation, Eintrittsalter und Situation der Betroffenen variiert.

Neben den konkreten Problemen der mit einer doppelten Sinnesbehinderung betroffenen Menschen in den Bereichen Kommunikation, Orientierung und Mobilität, Beschaffung von Informationen und Alltagsbewältigung werden auch die notwendigen Hilfen detailliert und nachvollziehbar aufgezeigt.

Ebenfalls werden die für die Betroffenen bekannten Barrieren wie fehlende Beratung, komplexes Sozialsystem mit unterschiedlichen Leistungsträgern, mangelnde Angebote für Rehabilitation und Wohnung, fehlende Assistenz usw. anschaulich dargestellt.

Auch können systemübergreifend keine biografischen Verläufe über das Leben von Menschen mit einer doppelten Sinnesbehinderung nachgezeichnet werden, da alle erfassenden Systeme (in NRW und Deutschland) unterschiedliche Definitionen und Erhebungsmethoden verwenden.

Letztendlich finden sich taubblinde Menschen als eigenständige Gruppe in keinem System wieder.

Zahlen über die Anzahl der Betroffenen lassen sich lediglich als Orientierungshilfe u. a. aus der kanadischen Studie von C. Watters, M. Owens & S. Munroe (aus dem Jahre 2004 mit einer Prävalenzrate von 11:100.000) und der regionalen Studie aus dem Heidelberger Raum (U. H. Spandau & K. Rohrschneider 2002 mit einer Prävalenzrate von 6,2:100.000) herleiten.

Demnach liegt in NRW eine Größenordnung von circa 1.900 Taubblinden, davon circa 275 Usher-Typ I und circa 825 Usher-Typ II vor.

Hochgerechnet auf die Bundesrepublik Deutschland bedeutet dies 8.715 Taubblinde, davon circa 1.261 Usher-Typ I und circa 3.784 Usher-Typ II (Anmerkung: Die Hochrechnung ist kein Bestandteil der Studie, sondern wurde vom Verfasser durchgeführt.).

Die wesentlichen für uns relevanten Empfehlungen der Wissenschaftler lauten u. a. die Einführung des Merkzeichens Tbl auf dem Schwerbehindertenausweis und damit die Anerkennung von Taubblindheit als eine eigenständige Behinderung sowie die Schaffung eines Kompetenzzentrums mit den Aufgabenbereichen

a) Koordinierung, Vernetzung und Entwicklung,

b) Beratung und Vermittlung sowie

c) Information und Aufklärung.

Ferner, dass Inhalte und Umfang von Schulungen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Integrationsfachdienste mit einem Gremium aus Vertreterinnen und Vertretern der Selbsthilfe taubblinder Menschen abgestimmt werden, damit Maßnahmen zur Verhinderung von Frühverrentung entwickelt werden. Und nicht zuletzt den Aufbau von Ausbildungsstrukturen u. a. für Taubblindenassistenten.

Die 237 Seiten umfassende Studie kann unter dem folgenden Link als pdf-Datei heruntergeladen werden:

Download der NRW-Studie

Was ist wirklich neu?

Die alltäglichen Barrieren und Lücken im Sozialsystem sind nun in einer wissenschaftlichen Studie festgestellt und Dank der Veröffentlichung ins Licht der Öffentlichkeit gerückt.

Was geschieht nun?

Durch die schonungslose Offenlegung der hohen und vielschichtigen Barrieren für Menschen mit einer doppelten Sinnesbehinderung, die unter den Hörgeschädigten die kleinste Gruppe jedoch mit dem höchsten Inklusionsbedarf darstellt, kann und will das zuständige Ministerium für Arbeit, Integration und Soziales NRW nun handeln.

Vom Bund unabhängig kann zunächst die Unterstützung der vorhandenen Taubblindenassistenzausbildung und die Schaffung eines Kompetenzzentrums umgesetzt werden. Für die meisten anderen Barrieren sind Gesetzesänderungen erforderlich, die nur auf Bundesebene realisiert werden können.

Wie oben dargelegt, ist die Anzahl der Betroffenen nicht so hoch, dass jedes Bundesland seine eigenen Lösungsansätze kosten- und zeitintensiv verfolgen sollte. Wünschenswert ist die Entwicklung von einheitlichen und koordinierten Beratungs- und Hilfsangeboten, die über die Grenzen und Zuständigkeiten der Bundesländer hinaus von allen Betroffenen genutzt werden können.

 

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