Der Faden der Ariadne

Hans-Jürgen Krug

Prolog

Wir haben inzwischen wohl die 18 Grad unter Null erreicht, die uns für heute zugeteilt waren. Mit dem Heiligen Abend ist unerwartet der so selten gewordene Winter gekommen, den ich mit einem Alleingang durch die gerade zugeschneite Landschaft erleben will. Der seit Kindertagen so vertraute Weg hat mich eine Weile begleitet, jedoch ist er, nach einem flüchtigen Tagtraum, plötzlich verschollen. Die nur für Stunden zu Gast gewesene Sonnenscheibe ist jetzt nur noch gelegentlich durch das untere Gitterwerk der hoch stehenden Kiefern zu erkennen. So schnell kann es also zu Ende gehen. Den mir auf einmal so fremd erscheinenden See, dessen Ufer mir eine verläßliche Führung zu bieten schien, muß ich schon mehrmals umkreist haben. Oder hat sich die Sonne eine neue Bahn gesucht? Da erkenne ich am anderen Seeufer einige Bootsstege mit Sommerlauben dahinter. Wie hatte ich sie vorhin nur übersehen können? Von diesem Punkt aus muß es einen Weg geben, der mich doch noch heimwärts bringen wird. Ob das Eis schon für einen Moment tragen wird? Endlich drüben angekommen erkenne ich gerade noch die Schemen der letzten späten Wanderer. Ich kann mich ihnen wortlos anschließen, denn sie ziehen zu den Sammelplätzen ihrer Kraftwagen. Meine Familie würde etwa dort warten, aber lange war ich noch nicht vermißt.

Die ordnende Kraft

Wissen was man finden will. Die unter Tage eingeschlossenen Bergleute wissen, daß es für sie ein ‚Oben‘ gibt, von wo aus man nach einer nicht zu langen Zeit nach ihnen suchen wird, etwas also, worauf sie ihre Hoffnung richten können. Aus der Mathematik wissen wir, daß schon die Existenzbeweise für Lösungen ein wesentliches Instrument für ihre konkrete Auffindung sind. Viele technische und organisatorische Lösungen hält uns in bekannter Weise die Natur bereit. Wenn dem nachvollziehenden Forscher auch das ‚Wie‘ für eine Weile verschlossen bleibt – etwa bei der Synthese eines bestimmten Wirkstoffes –, steht doch das von der Natur bereits erreichte Ziel als treibende Kraft immer vor Augen.
Dürfen wir davon ausgehen, daß die Welt, in der wir uns zurechtzufinden haben, sinnvoll geordnet und mit Wege und Zielen ausgestattet ist? Die Antwort könnte der Hinweis auf die bloße Projektion unserer Wünsche und Hoffnungen, aber auch die tatsächliche Existenz von Gestalt und Ordnung bildenden Kräften sein. Leben ist ohne das Vorhandensein verläßlicher Rahmenbedingungen unmöglich. Wodurch wird ein solches Leben tragendes Skelett nun gebildet? G. W. Leibniz (1646-1716) ging in seiner "Monadologie" von einer "prästabilisierten Harmonie" aus: Das Gleichgewicht von Leib und Seele war für ihn Ausdruck eines aufgeprägten göttlichen Willens. Noch die bald formulierten Extremalprinzipe der Mechanik wurden als Beweis einer göttlichen Finalität interpretiert. Ende des 19. Jahrhunderts wurde vom schwedischen König die (nicht gelöste) Preisaufgabe nach einer mechanischen Begründung für die Stabilität unseres Sonnensystems gestellt. Zu jener Zeit wurde auch die Frage nach den ordnungsbildenden Kräften sowohl in der belebten Natur als auch in sozialen Systemen immer dringlicher. Jedoch erst in der jüngeren Vergangenheit wurden mit den Selbstorganisationskonzepten der modernen Physik ausgebaute Erklärungen dafür angeboten.

Stabilisierte Harmonie

Ordnung und Stabilität lassen sich nun allein als Folge von Ursache-Wirkungs-Beziehungen (unter Verzicht auf ein zielgerichtetes Prinzipe) verstehen. Dies läßt sich an vielen exemplarischen Beispielen aus den Naturwissenschaften illustrieren. Dazu gehört auch die Anlage von Wegen und ihre Vernetzung.
Diese sind oft ohne Plan so organisch gewachsen wie unsere Städte. Deren Wachstumsdynamik ist in den letzten Jahren in der Physik eingehend studiert worden. Dies betrifft sowohl die Wanderwege von Insekten, die Handelswege von Geschäftsleuten als auch die Entstehung von neuronalen Netzen. Ein Beispiel bieten die Trampelpfade von über Graslandschften ziehenden Herden. Jeder einmal ausgetretene Pfad stabilisiert sich schon durch seine im Vergleich zur Umgebung leichtere Begehbarkeit und wird durch seine fokussierte Benutzung am Überwuchern gehindert. Zu seiner Anziehung trägt noch sein Informationswert bei: Der festgetretene Pfad bietet die Gewißheit, daß an seinem Ende ein gemeinsam lohnendes Ziel sein muß. Etwa eine Wasserstelle, deren Geruch in Trockenzeiten nicht mehr weit genug trägt.
Unsere nicht angeborenen Fähigkeiten und Fertigkeiten werden erst durch längeres Training erworben und gefestigt. In dieser Phase ordnen sich bislang unverknüpfte Neuronen zu neuen Netzwerken, während sich andere, nicht mehr gebrauchte, wieder auflösen. Solche neu geschaffenen Verbindungen bleiben wiederum nur so lange intakt, wie sie auch durch ständigen Gebrauch am Leben erhalten werden. So wie sich ein Fluß seinen günstigsten Weg (des geringsten Widerstandes) bahnt, suchen sich die elektrolytischen Ströme der Nervenfasern den ökonomischsten Weg (ohne vermeidbare Umleitungen und Umsteigepunkte).
Wir Blinde und Sehbehinderte kennen dies aus eigener Erfahrung: Durch Übung und Gewöhnung gelingt es uns selbst im Dickicht der Großstädte, allein mit dem weißen Stock als sichtbarem Hilfsmittel, bald mit einer gewissen Geläufigkeit den sich immer fester einprägenden Alltagsweg zurückzulegen. In unserem Unterbewußtsein baut sich allmählich ein System von inneren und äußeren Merkzeichen auf, das bei jedem Verlassen des Kurses sofort Alarm schlägt. Da vermissen wir auf einmal den gewohnten Rhythmus der eigenen Schritte, der Treppenabsätze oder der Wegeabbiegungen. Auch das vertraute Ensemble von Geräuschen, Schatten und Schemen ist auf einmal verlorengegangen. Wir bewegen uns in einer von außen nicht erkennbaren ‚Rinne‘, die wir uns täglich von neuem freihalten müssen. Sie ist der im Titel genannte ‚Faden der Ariadne‘, der uns nicht nur unterwegs auf der richtigen Bahn hält, sondern bereits von Anfang an Sicherheit und Vertrauen schenkt.

Exkurs: Eigenwerte

Ist es nicht erstaunlich, daß trotz der Vielzahl an Möglichkeiten und unwillkommenen Zufällen dennoch, aus eigenem Vermögen der Natur ‚von selbst‘ immer wieder Regelmäßigkeiten und stabile Gefüge auftreten? Es gehört zur eigentümlichen Dialektik allen Geschehens, daß trotz aller zentrifugalen Kräfte und Instabilitäten, die ja vordergründig Quellen von Zerfall und Unordnung sind, umgekehrt durch von ihnen selbst getragene einholende Rückkoppplungen wieder verläßliche Ordnung erzeugt wird. Aus der Mathematik ist uns der Begriff der ‚Eigenwerte‘ geläufig, der die Auslese eines zumeist diskreten Satzes von Lösungen aus einem gedachten Kontinuum beschreibt. Auch in der Soziologie wird er in einem übertragenen Sinne für Schichten und Hierarchien verwendet.
Wenn wir uns zum Beispiel in eine schon nahezu überfüllte U-Bahn drängen, steigt nach deren Abfahrt der Überdruck durch die zugestiegenen Menschen in erfreulicher Weise nicht noch weiter an, sondern es entsteht bald unter kluger Ausnutzung des Raumes ein sinnreiches Gefüge unter den Fahrgästen, das am Ende sogar noch etwas Abstand zwischen ihnen läßt. Diese Konstellation ist ein ‚Eigenwert‘, der bis zur nächsten Station hält.
Beim Besuch von Seminaren treffen gewöhnlich zufällig verteilte Charaktere und angenommene Rollen aufeinander. Nach einer gewissen Zeit der gegenseitigen Interaktion werden diese Rollen dann neu verteilt, ohne daß dies von einem äußeren Koordinator geregelt würde. So finden wir dann letztlich nur jeweils einen ‚Bestimmer‘, einen ‚Theoretiker‘, einen ‚Zweifler‘, aber mehrere ‚Apostel‘ des Bestimmers und weitere Darsteller mehr, jeweils in einer wohlabgestimmten Abhängigkeit und Orientierung bietenden Beziehung zueinander – in einem ‚Eigenzustand‘ der Gruppe.

Jenseits des Alltags

Anlaß für diesen Text war eine Überlegung zum Thema "Orientierung und Mobilität". Es zeigt sich, daß es nicht auf seine technischen Aspekte reduziert werden kann. Zwar sind diese notwendig, um unseren angestrebten Bewegungsrahmen aus eigener Kraft ausfüllen zu können, aber selbst dann, wenn wir unseren täglichen Parcours einmal mehr erfolgreich überstanden haben, verbleibt doch stets das zunehmende Gefühl eines Verlustes von Sicherheit und Kontrolle, in aktuellen Situationen gepaart mit einer pathischen Destabilisierung der gesamten Persönlichkeit. Denn wer kennt nicht den Moment des Orientierungsverlustes, wenn man an einem Spätsommerabend nach unerwartet früh eingebrochener Dunkelheit auf offenem Gelände die Stimmen seiner noch kleinen Kinder hört, die nach dem Heimweg fragen, oder wenn wir umgekehrt in hell überstrahlte Gebäudetrakten, mit pastellfarbenen, fast Nahtoderlebnissen konfrontiert werden? Die Frage wird akut, ob wir im Leben generell auf verläßliche Rahmenbedingunen vertrauen dürfen. Zu ihrer Beantwortung können auch eher theoretische Betrachtungen über Ordnung und Stabilität unserer Alltagswelt beitragen. Denn erst ein vertieftes Verständnis ihrer oft unerschlossenen Rationalität befreit uns von den dort zuweilen angesiedelten mythischen Konstruktionen und eröffnet uns zugleich jene Horizonte, in die unsere persönliche Erlebniswelt nur eingebettet ist.

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