Veränderungen des Denkens und des Verhaltens bei Hör- und Sehbehinderten

Dr. Hans-Jürgen Krug
Überarbeiteter Vortrag, gehalten am 12.10. 2000 im HörBIZ Berlin-Pankow

Einleitung

Die Behandlung dieses Themas erfolgt aus der Sicht eines von einer Hör- und Sehbehinderung betroffenen Physikers, also aus einer dreifachen Perspektive. Denn eine Verbindung zwischen der Psychologie und der Physik ist traditionell und besteht schon seit dem 19. Jahrhundert mit Theodor Fechner, Hermann von Helmholtz oder Ernst Mach.
Es gibt eine Trias aus Denken, Verhalten und Charakter; der Charakter fasst Denken und Verhalten zu einer langsam wachsenden und stabilen Größe zusammen. Bereits frühzeitig erworbene Denkmuster begleiten uns das ganze Leben lang. So wird ein Naturwissenschaftler seine einmal erworbenen Denkmuster auch im Alltag oder auch später in jedem anderen Beruf verwenden. Ein schwerhöriger Mensch, der schon als Kind einen durch die Hörschädigung bedingten defensiven Charakter erworben hat, kann auch mit Erfolg in den Kategorien eines Naturwissenschaftler denken, aber sein zurückgenommener Charakter wird ihm auch in diesem Beruf von Nachteil sein.
Wo greift nun eine früh erworbene Hör- und Sehbehinderung in die Lebensbahn ein? Der durch Schmecken, Riechen und Tasten erfasste Nachbereich ist ja von ihr unbetroffen und kann somit in den ersten Lebensmonaten unbehindert erschlossen werden. Ein erblich bedingter Ausfall des Gleichgewichtssinnes verlängert aber schon das Krabbelalter, da sich das Laufenlernen verzögert. Bei direktem Kontakt mit der Mutter wird Schwerhörigkeit oder Sehbehinderung (die bei erblich bedingter Kombination zumeist erst nach Jahren einsetzt) noch nicht spürbar oder lange verdrängt.
Der mittlere und Fernbereich der menschlichen Umwelt wird durch Hören und Sehen abgedeckt. Der Nahbereich der Mutter wird zunehmend verlassen und die ersten sozialen Kontakte können nur durch Hören und Sehen vermittelt werden und erlauben es auch, diese über eine gewisse Distanz abzuwickeln. ‚Distanzlosigkeit‘ bei sozialen Kontakten (bei geistig Behinderten eingeführt) meint Rückgriffe auf die Sinne Riechen, Schmecken und Tasten.

Charakter und Schwerhörigkeit

– ist der Titel eines Buches von Erich Krug, in dem das Thema bereits eingehend behandelt worden ist. In Folgendem mögen einige persönliche und neue interpretiernde Aspekte hinzutreten.

Es gibt zwischen dem normalen Hören und der Gehörlosigkeit nicht nur – wie der Mathematiker sagen würde – stetige Übergänge, mit denen der Komplex ‚Schwerhörigkeit‘ schon abgedeckt wäre. Er ist im Gegenteil durch qualitative Verwerfungen gekennzeichnet, die sowohl seine Bewältigung als auch die Vermittlung für Außenstehende stark erschweren. Für einen von Kindheit an Schwerhörigen ist es oft nur zu ahnen, was die Sinnesqualität des normalen Hörens eigentlich ausmacht – und wie sie (im Gedankenexperiment) in die durch lebenslange Schwerhörigkeit geprägte Persönlichkeit überhaupt eingebaut werden könnte.

Während die reine Schalleitungsschwerhörigkeit zumeist chirurgisch behandelt oder durch linear verstärkende Hörgeräte komfortabel ausgeglichen werden kann, ist die Innenohrschwerhörigkeit nie vollständig behebbar. Dies liegt einmal an der nach den Sprachfrequenzen stark abfallenden Hörkurve und zudem am stark eingeschränkten Dynamikbereich der Hörkurve. Leise Töne werden als solche nicht gehört, jeder Ton wird nach Überschreiten der Hörschwelle von 60-90 dB bald als ‚laut‘ empfunden, so daß jede herannahende Schallquelle zu spät – und dann mit Erschrecken wahrgenommen wird. Gleichzeitig ist die Behaglichkeitsgrenze für laute Töne herabgesetzt, so daß für eine Hörgeräteanpassung nur ein schmaler Dynamikbereich verbleibt. Noch problematischer ist es bei CI-Trägern, bei denen der Höreindruck (etwa die Empfindung von Tonhöhen) nicht einmal mit dem von Innenohrschwerhörigen vergleichbar ist. Dazu kommen weitere Phänomene wie eine schnelle Hörermüdung, die bereits nach wenigen Worten eintreten kann. Tiefe Töne können noch recht gut und vor allem als angenehme gehört werden, woraus eine Filterfunktion für den sprachlichen oder musikalischen Rhythmus resultiert.

Es ist ein bekanntes Problem, daß mit gut angepaßten Hörgeräten eine Verständigung in ruhiger Atmosphäre gut möglich ist, aber in lärmiger – in erdrutschartiger Weise – nahezu nicht mehr. Dieser Qualitätsabfall ist leider Außenstehenden nur schwer zu vermitteln, zumal man vorher fast alles gehört hatte (solange man sich konzentrieren konnte), selbst Dinge, die im Vertrauen auf die von einem bekannte Schwerhörigkeit nicht für einen bestimmt waren.
Dies führt dazu, daß bei kongenitaler (erblich bedingter) Schwerhörigkeit die ab einem gewissen Alter eigentlich normale soziale Kontakte (Kindergarten, Grundschule) mit gleichaltrigen Kindern als fremd und belastend empfunden werden. Wohl fühlt man sich nur, wenn man abends in den Kreis der Familie zurückkehren kann. Hier sind (auch bei verringertem Sprachverständnis) der Klang der Stimme, die Verhaltensmuster und die Denkstrukturen vertraut. Auch im späteren Leben wird eine Hemmschwelle bleiben, die die vitalen Energien (wie in den Armen eines Flußdeltas) lieber in andere, gefälligere Richtungen fließen läßt, obwohl jene Hemmung mit modernen Hörgeräten und sprachlicher Rehabilitation durchaus überwindbar wäre. Aber es kostet doch viel Kraft.

Wie ein Fisch im Wasser

Für normal Hörende ist die Sprache ein so geläufiges Medium wie für den Fisch das Wasser als Lebenselement. Der Mensch kann sich nur kurze Zeit oder mit Preßluftflaschen und Atemgerät unter Wasser aufhalten und unter Anstrengungen die natürliche Umwelt der Fische teilen. In dieser Situation ist der Schwerhörige, wenn er mit seinen Hörgeräten an der Welt der Hörenden teilnehmen will.
Wenn auch die Lautsprache erlernt und sicher beherrscht wird, besteht die Neigung, sich eine eigene Welt zu schaffen mit einer eigenen, nicht verbalen Sprache. Der häusliche Lebenshorizont wird gern für die ganze Welt genommen. Die am nächsten liegenden Bezugspunkt sind das eigene Denken und der eigene Körper, die ja immer und zu allen Gelegenheiten zur Verfügung stehen. Dies führt zu ‚autistischen‘ Verhaltensweisen insofern, da man aus diesem selbst geschaffenen und befestigten Kreis, außerhalb dessen es keine ‚Welt‘ geben soll, nicht mehr heraus will.

Die defensive charakterliche Prägung entsteht auch durch das langjährige Einschleifen von sogenannten sozialen Vermeidungsreaktionen. Es gibt es das nachvollziehbare Bestreben, unangenehme und kraftraubende Situationen zu vermeiden, um verfügbare Energien sinnvoll in andere Kanäle zu leiten. Das Schwergewicht wird auf visuelle Informationen gelegt (Landkarten, Fahrpläne, Aushänge), obwohl man in vielen Situationen auch andere Menschen fragen könnte. Blinde Menschen hingegen fragen bei jeder Gelegenheit und ganz automatisch, da ihnen der visuelle Hintergrund fehlt. Weil Schwerhörige jeden verbalen Kontakt als besondere Anstrengung empfinden, versuchen sie unbewusst, mit kommunikativen Ersatzformen über den Tag zu kommen: ein Verhaltensmuster, das sich im Laufe der Jahre immer mehr verfestigt.

Als natürlich empfundene Umwelt baut sich in der Kindheit und Jugend etwa die Welt der Schwerhörigenschule auf. Unter geschützten Bedingungen kann sich beim Erwerb eines ungeschmälerten Lehrstoffes das ‚Denken‘ frei von den im äußeren Leben bereits eingeschliffenen defensiven Verhaltensmustern entwickeln. Die im Vergleich zu Regelschulen kleine Klassenfrequenz und die Gruppierung der so einander zugewandten Schüler im Halbkreis symbolisieren auch einen nahezu geschlossenen Zirkel, in den nur der Lehrer von Außen eintritt. Innerhalb dieses Halbkreises ist stets eine barrierefreie Verständigung, unterstützt durch das Ablesen vom Mundbild, möglich. Der Halbkreis umschließt auch – wie bei einem Kreis betender Mönche – einen Aktionshorizont, hinter dem es auch keine Welt zu geben braucht. Der Raum wird auf diese Weise strukturiert, wie es ein allgemeines Charakteristikum des Lebendigen ist, sich nach außen hin abzugrenzen und den Verkehr zur Außenwelt durch eine selbstgeschaffene Berandung zu steuern.

Die Welt da draußen

Die "Welt da draußen" wird sowohl räumlich (beim Verlassen der Schule oder des Internats) als auch zeitlich (nach dem Schulabschluss, mit dem Übergang zu Lehre oder Universität) zumeist als feindlich empfunden. Jedoch erfolgt paradoxerweise der Anschluss zu den Selbsthilfegruppen für Hörbehinderte erst in späteren Jahren: nach Abschluss des Berufslebens, wenn die Kinder das Elternhaus verlassen haben, oder nach rapiden Verschlechterungen des Hörvermögens.

Dieses Gemeinschaftsbewusstsein bildet sich bei Blinden und Gehörlosen hingegen viel zeitiger aus, da bei ihnen naturgemäß jede Möglichkeit zur unauffälligen Anpassung an die Welt der sensorisch nicht Behinderten fehlt.

Es wäre zu untersuchen, wie sich spezifische Wertmaßstäbe entwickeln, so wie bei Gehörlosen die Existenz einer eigenständigen Kultur postuliert wird. Dominante Maßstäbe, die oft gar nicht lebbar sind, werden – auf Grund fehlender Vorbilder – aus der Welt der Hörenden übernommen, wobei die Individualität und die Autonomie des Einzelnen auf der Strecke bleiben.
Bei der Lautsprache, die oft lebenslang eine Fremdsprache bleibt, da sie nur in Textform als natürliches Medium zur Verfügung steht, kann sich nur ein unzureichendes Gefühl für die Sprachmelodie (und die korrekte Aussprache von Fremdwörtern) herausbilden. Die von der Melodie transportierte Ironie des gesprochenen Wortes wird zwangsläufig nicht empfunden und der Gehalt eines Satzes auf seinen formalen Inhalt reduziert.

Positiver Ausgleich der Defizite

Was kann man aber an Positivem finden, was die genannten Defizite zum Teil ausgleicht? Hier wäre einmal zu nennen, daß sich durch die fehlende Einbettung in die Umgangssprache der Normalhörenden dazu als Alternative eine ‚synthetische‘ eigene Sprache entwickelt. Diese ist durch die Bindung an die textlich fixierte Literatursprache eine durchaus auch bessere Alternative, wenn ihr auch eine gewisse Lebendigkeit in Alltagssituationen fehlen mag. In den Sog der zeitgenössischen sprachlichen Nachlässigkeiten gerät man durch diese Abschirmung nicht.
Mit dem genannten Fortfall der Sensibilität für die Melodie der Sprache steigt im Gegenzug das Gefühl für ihren Rhythmus: man erkennt den Walzer in einem Gedicht und den eisenharten Rhythmus der "Wolokolamsker Chaussee". Der Rhythmus wird wie durch ein Filter erkannt, hinter dem sich nun die ganze Aufmerksamkeit des Hörers konzentriert.

Die Prägung des Charakters durch Sehbehinderung

Wie die Hörbehinderung reduziert sich auch der Komplex der Sehbehinderungen nicht auf einen allmählicher Übergang von der Normalsichtigkeit zur sogenannten "Schwarzblindheit", sondern es gibt qualitative Differenzierungen, die von Vollsehenden nicht ohne weiteres nachvollziehbar sind. Genauso wenig, wie es bei Schwerhörigen Sinn macht, allein die Sprechlautstärke zu erhöhen, ist es sinnvoll, in die Umgebung von Sehbehinderten nur ‚mehr Licht‘ zu geben. Paradox erscheint es, wenn nahezu Blinde stark dunkle Sonnenbrillen mit einem Seitenschutz tragen, anstatt alles vorhandene Licht zu den kaum noch sehenden Augen treten zu lassen.

Ein hoher Prozentsatz an Erblindungen wird durch erblich bedingte degenerative Erkrankungen der Netzhaut bewirkt. Aus den zahlreichen und genetisch sehr heterogenen Netzhautdegenerationen seien zwei herausgegriffen, die einander genau entgegengesetzte Gesichtsfeldausfälle bewirken: die Retinitis Pigmentosa (RP) und die Makula-Degeneration (MD).

Lieber Regen als Sonne :.(

Bei der RP vollzieht sich ein allmählicher Ausfall des peripheren Sehens, bis über lange Zeit gerade noch ein zentraler Sehrest verbleibt und letztlich auch noch dieser verschwindet. Dies führt zum Phänomen des "Tunnelblicks", der zwar noch das Erkennen von Texten aber keine Orientierung in der Umgebung mehr erlaubt. Dazu kommen noch Nachtblindheit, eine starke Blendempfindlichkeit und eine erschwerte Hell-Dunkel-Adaption. Aus diesen Gründen wird von RPlern eine gleichmäßig ausgeleuchtete, nicht zu helle, aber kontrastreich gestaltete Umgebung als komfortabel empfunden. Ein bedeckter, gar verregneter Sommertag kommt ihnen mehr entgegen als ein Tag mit strahlender Sonne, die mehr blendet als ausleuchtet und vor der man sich mit Sonnenbrillen oder Kantenfilergläsern schützen muss.

Bei der Makula-Degeneration (MD) ist dagegen gerade das zentrale Gesichtsfeld ausgefallen, während die periphere Netzhaut erhalten ist. Nachtblindheit und Blendempfindlichkeit treten nicht auf. So ist hier eine vollständige Orientierung auch bei stark wechselnden Lichtverhältnissen gegeben, während das Erkennen von Gesichtern, das Lesen von Texten und das Anschauen von Bildern unmöglich ist. Einen Ausgleich schaffen (in der häuslichen "Leseecke") vergrößernde Sehhilfen, um das Lesen in Grenzen noch zu erlauben. Weitere Hilfsmittel sind die elektronische Sprachausgabe auf dem PC oder der klassische Vorleser. Der von MD Betroffene kann sich in seiner Umgebung zwar frei bewegen, scheitert aber im Alltag am schnellen Erfassen jeder gedruckten Information. Es muss also nach solchen Informationen gefragt werden (was ja Hörbehinderte gerade bewusst vermeiden); dies führt zwangsläufig zu einer Aufwertung des akustischen Sinnes. Wenn Gesichter nicht mehr erkannt erinnert werden, tritt an ihre Stelle die Stimme des Menschen.

Mobilitätstraining

Die bei der RP verlorene Orientierung wird durch Mobilitätstraining mit Langstock oder mit einem Führhund zum Teil wiederhergestellt. Der einst voll sehende ‚Sehrestler‘ wird bei diesem Training die Erinnerung an die frühere gesehene Umwelt wieder auffrischen. Durch das Abtasten mit dem Stock vergewissert er sich, dass die Straßen und Wege noch so verlaufen wie ehedem. Gerade verlaufende Wege und Achsenverbindungen, die er früher nicht bewusst als solche wahrgenommen hatte, werden nun gerne zur Orientierung verwendet. Durchgehende Verbindungen leiten auch den Schall von belebten Straßen her und geben eine zusätzliche akustische Information, die sonst im Unbewussten verschwand. Die vormals vollständig "auf einen Blick" gesehene und erinnerte Umwelt wird allmählich wieder zu einem Ganzen rekonstruiert.

Aber auch Blindgeborene haben die Fähigkeit, aus einzelnen ertasteten Facetten, etwa den Zweige, den Ästen, dem Stamm, den Blüten oder den Blättern eines Baumes zuletzt einen ganzen Baum zu rekonstruieren, genau so, wie Sehende ihn wahrnehmen. In gleicher Weise kann auch der Weg zur Arbeit im Kopf aufgebaut werden, nachdem man ihn einige Male unter Führung abgeschritten hat. Aus den sukzessiv erarbeiteten Teileindrücken baut sich ein simultanes Gesamtbild auf, obwohl es im Ganzen nie gesehen wurde. Dieses Bild bleibt allerdings nur so lange verfügbar, wie die es aufbauenden Erfahrungen in gewissen Abständen wiederholt – oder korrigiert werden. Auch die Wanderwege in der freien Natur bleiben nur so lange erhalten, wie sie von den Schritten der Wanderer selbst vor dem Wiederzuwachsen bewahrt werden.

Sensibilisierung anderer Sinne

Auch hier war bislang nur von Defiziten und von ihrem teilweisen Ausgleich die Rede. Kann eine Form von Sehbehinderung überhaupt eine positive Folge haben, abgesehen von der starken Sensibilisierung anderer Sinne, wie Tasten oder Hören. (Diese Sensibilitätssteigerung wird oft überschätzt und mystifiziert; Blinde beklagen oft den Verlust des unbewusst praktizierten Lippenlesens in lärmiger oder ‚vielstimmiger‘ Umgebung).

Wie beim Hörbehinderten ist die Abkapselung von der störenden Umwelt unter geschützten Bedingungen ein Vorteil, der genutzt werden kann, um längere Zeit konzentriert zu arbeiten und möglicher weise auf Gedanken zu kommen, die im ‚Mainstream‘ des Lebens nicht möglich gewesen wären. So können einem zumindest durch die veränderte Lebensperspektive – um mit Goethes "Wilhelm Meister" zu sprechen – bislang ungeschaute Dinge "auffallen" statt nur "einzufallen".

Die von RP betroffene Autorin Dorothy Stiefel hat in ihrer Broschüre "Stress und Gesundheit" beschrieben, daß sie sich durch ihren fokussierenden Tunnelblick im Gruppengespräch besser auf einzelne Gesprächspartner konzentrieren kann. Jedes in den Blick genommene Gesicht wirkt für sie wie ‚eingerahmt‘ und dadurch hervorgehoben. Auch im in jüngeren Jahren betriebenen Bowling konnte sie den Durchschnitt ihrer Mitspieler überragen, da sie ihr Sehen ausschließlich auf die Kegel am Ende der Bahn konzentrieren konnte und nicht durch das sich seitwärts abspielende Geschehen abgelenkt wurde.

Ästhetische Dimensionen

Die Verbindung von Tunnelblick und Nachtblindheit erzeugt neben ihren Einschränkungen im Alltag eine ästhetische Dimension insofern, als beleuchtete Details aus einer mystisch verdunkelten Umgebung herausgehoben werden. In gleicher Weise hatRembrandt mit seiner Malweise die Peripherien seiner Bilder bewusst im Dunkeln gehalten hat, um den Blick auf den im Licht stehenden Bildschwerpunkt zu lenken. Jedes Dunkle scheint auch ein Geheimnis zu bergen, das im sachlichen Licht des Alltags seinen Bestand verlöre. Nach Rembrandt haben andere Maler wie Caspar David Friedrich oder Carl Gustav Carus Kompositionstechniken gebraucht, um den Blick auf freie Landschaften durch einrahmende Felsen, Bäume oder Fenster zu kanalisieren.

Die Wahrnehmung von geradlinigen Achsverbindungen in Städten, Gebäuden und Parkanlagen wird durch den Tunnelblick ebenfalls gefördert. Sowohl ihre ästhetische Funktion wird wiederentdeckt als auch ihre praktische Bedeutung als Orientierungshilfe genutzt.

Solche Sichtachsen wurden einst im Barock als Architekturmerkmal eingeführt. Sie gaben über lange Distanzen den sonst verstellten Blick frei auf sogenannte Blickpunkte: Gebäude, Skulpturen oder Obelisken. Die Stadtplanung Roms ist – mit dem kirchlichen Impuls, eine Orientierungshilfe für Rom-Pilger zu schaffen – seit dem 16. Jahrhundert auf solche Achsen ausgerichtet worden. Im Park vonSanssouci ist die Ost-West-Achse vom Obelisken zum Neuen Palais erhalten. In Berlin geht die Verbindung vom ehemaligen Schloss über die Straße ‚Unter den Linden‘ und der Charlottenburger Chaussee in den Tiergarten auf eine planvolle Anlage des Barock zurück.

Die Schaffung eigener Horizonte

Jedes Lebewesen und jede soziale Gemeinschaft schafft sich seine eigenen Lebenshorizonte, die durch den selbst gewählten Aktionsradius, eine Berandung und durch spezifische Wertmaßstäbe gekennzeichnet sind. Es gibt im Grunde so viele verschiedene Lebenshorizonte wie Individuen mit unterschiedlichen Perspektiven.

Dennoch sind in jeder Gesellschaft bestimmte Maßstäbe dominant: unsere Heutige ist durch Werte wie Jugendlichkeit, körperliche Fitness, Mobilität und Kommunikationsfähigkeit bestimmt, die Menschen mit Behinderungen nur eingeschränkt bedienen können. Kategorien wie Krankheit oder Tod werden aus dem gesellschaftlichen Bewusstsein eliminiert. Als Folge wird der Lebenshorizont von Menschen mit Behinderungen zwangsläufig – sowohl von der äußeren Perspektive als auch von ihnen selbst – als defizitär empfunden. Jedes Wertestem ist jedoch nur ein Ergebnis einer gesellschaftlichen Vereinbarung. Der Fehler hierbei ist, daß sowohl die Perspektive der Nichtbehinderten als auch das vermeintliche Elend der Behinderten als absolut gesetzt werden. Begriffe wie ‚schwere‘ oder ‚schwerste‘ Behinderungen werden oft inflationär gebraucht und verbauen den Weg, sich selbst und das gelebte Leben als lebenswert anzunehmen. Schon in dem Glauben, dass durch eine Behinderung wesentliche Facetten des Lebens verlorengehen, wird ein herrschendes Wertesystem bedient. Auch ist zu hinterfragen, ob ein Abbauen oder Überwinden von ‚Barrieren‘ über ein beruflich wie existentielles Maß hinaus überhaupt sinnvoll ist, da es letztlich zur Aufgabe selbst geschaffener Lebenswelten führt.

Die Verwirklichung einer Autonomie des Menschen, ob nun behindert oder nicht, ist in wertemäßig gleichgeschalteten Gesellschaften immer schwierig. Sie sollte daher als positive Fiktion und nicht als kaum einzuhaltender Imperativ verstanden werden. Es ist mit ihr wie mit der Kultur: man ‚hat‘ sie nicht, aber man ‚habe‘ sie.
 

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