Was können wir erkennen?

Von Dr. Hans-Jürgen Krug

Wir steigen einen Turm hinauf, der vor Zeiten als Glockenturm diente. Am Fuße der umlaufenden Treppe residiert ein Wasserbecken mit eingetauchten Scheinwerfern, die bengalische Lichtkegel in die Höhe werfen. Aus der Tiefe dringen mythische Urklänge zu uns hinauf und scheinen uns zurückholen zu wollen. In den Nischen des Turmes begegnen uns nach jedem Absatz wieder bengalische Lichter, die einander nie gleichen. Mir fallen die drei Männer ein, die einst an einem tauwettrigen Januarnachmittag dem Feuer ihres kleinen eisernen Ofens zusahen, in dem sie die Überreste der vergangenen Neujahrsnacht ein letztes Mal auflodern ließen. Zuweilen vermochte ein spät erwachendes Feuerwerk die sonst in ein ewiges Dämmerlicht versunkenen Wände des Bauwagens  mit einem fahlfarbenen Wetterleuchten zu überstreichen, das seltsam gegen die Dunkelheit aufbegehrte, die auch draußen die Herrschaft schon angetreten hatte.

Bei unserem nächtlichen Aufstieg haben wir den obersten Umlauf erreicht; tief unter uns ruft das Große Becken wie der aufblinkende Spiegel eines mittelalterlichen Festungsbrunnens. Über uns wacht ein Einhalt und Umkehr gebietendes magisches Auge, das mich jedoch mehr anzieht als zurückweist. Ich zögere, folgsam heimzukehren und steige weiter hinauf. Das Auge ruht im Zentrum einer farbigen ovalen Keramik: Ich wage sie ohne Scheu in die Hände zu nehmen; Das Auge ruht im Zentrum einer Spirale, die wie bei der Maske eines Dämons eine grellfarbige Bahn beschreibt. Ich lasse mich von dieser Spirale wie in einen Strudel hineinziehen und finde mich schließlich in dem Raum dahinter wieder. Von nun an muß ich den Weg weitergehen, ohne ein Ziel zu kennen. Eine stählerne Treppe führt weit ins Freie hinauf. Das für eine Weile Halt bietende Geländer bricht bald ab. Die Stufen sind vereist, nicht dafür gedacht, daß sie jemand betritt.

Auch diese letzten Stufen verschwinden, und auf einmal ist nichts mehr, nur noch der weite und unendlich leere Raum, nicht einmal bleibt die Erinnerung an mein irdisches Zuhause. Es ist bitter, und es ist kalt. Was wird jetzt noch kommen? Werde ich Ihm noch begegnen, den ich zuweilen zu sehen glaubte in seltenen, flüchtigen und glücklichen Momenten – und als wen würde Er mich erkennen, der schon früh Zuflucht gesucht hatte in einer unwirtlichen Kristallkugel?

An der Baumgrenze des Lebens

Noch einmal bin ich wach geworden. Im Aufdämmern erscheint mir – fast wie ein Wortspiel -- die Frage: Was können wir erkennen? Es ist eine irrationale Eigenheit des Menschen, dass er über die ihm zugedachte Alltagswelt hinaus ins Staunen gerät und zu immer weiteren Brückenköpfen vorzudringen sucht. Eine Abirrung der Evolution? An der Baumgrenze des Lebens, nahe den zu erkundenden Kristallsphären des Alls finden sich erratisch verteilte, von ihren Erbauern zuweilen längst verlassene Vorwerke, in deren Fenstern sich ein Vorhang bei aufkommendem Wind leicht kräuselt. Von dort aus sollen Dinge geschaut werden, die jenseits unserer längst ausgeleuchteten Alltagswelt liegen. Es drängt uns, wie Thomas von Aquin schrieb, auch die hoffende, liebende Suche nach Weisheit, die uns oft versperrt bleibt.

Die Suche nach der einen Wahrheit

Robert Havemann, der in seinen „Naturwissenschaftlichen Aspekten philosophischer Probleme“ (1964) die materialistische Erkenntnistheorie von politischen Dogmen zu befreien suchte, verwies darauf, daß jeder Erkenntnisprozess auf Grund der Langsamkeit unseres Verstandes uns die zu reflektierende Welt immer wieder enteilt und sich deshalb nie vollständig erfassen lässt.

Aber dieses Spiel von Hase und Igel ist es nicht allein, was die Suche so spannend macht. Auch wenn wir dies aus eigenem Erleben kennen, wenn das Leben sich immer wieder als neu und wendig erweist und unseren nachgebauten Koordinatensystemen entgleitet. Bei der ‚liebenden Suche’ nach Weisheit versuchen wir, durch die Oberfächer der Erscheinungen zum Wesen der Dinge vorzudringen. Dieses Wesen der Dinge oder die letzte Weisheit erscheint bei vielen Denkern zwar unerreichbar, wir können uns ihr aber durch ‚unendliche Reflektion’ immer weiter nähern. Dieses abendländische Weisheitsverständnis hat seine Parallele im naturwissenschaftlichen Denken, das im Grundsatz von einer einheitlichen, wenngleich sich bewegenden Realität ausgeht.

Dieser Mythos des einen Erkenntniszieles sei kurz anhand der Physikgeschichte beleuchtet: Von den Kepler’schen Gesetzen (1609/1619) über die Newton’sche Mechanik (1684) bis zur Relativitätstheorie Einsteins (1905/1915) sind mehrere Jahrhunderte vergangen, in der sich die Himmelsmechanik sich zu immer weiterer Vollendung hat entwickeln können. Ein scheinbar linearer Prozess, der nur dieses eine Ziel zu kennen schien, das zudem noch durch die Schönheit des theoretischen Gebäudes gekrönt wurde. Aber es sind auch andere, bereits rumorende Theorien und Ansätze möglich, die bislang durch die Strahlkraft jener kopernikanischen Traditionslinie dominiert wurden.

Das liebende Eindringen

Im Hebräischen gibt es für ‚Erkennen’ und ‚Lieben’ das Wort jadoa, das für ein ‚liebendes Eindringen’ in einen Gegenstand – ganz im Sinne des männlichen sexuellen Aktes – steht. An diesem Bild wird deutlich, dass hier etwas Neues entsteht, nicht nur das Eintreten in etwas schon vor uns gegebenes. Es ist nicht nur der suchende Lichtkegel einer Lampe in dem uns noch unbekannten Ballsaal, sondern durch das Eindringen in eine als weiblich gedachte Realität wird etwas hervorgebracht, was vorher nicht vorhanden war. Die Erkenntnis wächst hinüber zur Erfindung.

In diesem hebräischen Wort jadoa steckt also die Möglichkeit, immer wieder etwas Neues zu (er)finden, das bislang nicht nur unentdeckt, sondern gar nicht vorhanden war. Dies ist vermutlich der früheste Gedanke der Aufklärung, der schon weit hinausging über ihre spätere, neuzeitliche Reduktion auf Zergliederung und Okkupation.

Kupferdraht und Magnetnadel

Michael Faraday hat einmal gefordert, daß ein Physiker schon mit einer Rolle Kupferdraht und einer Magnetnadel zu neuartigen Experimenten gelangen müsse. Heute glaubt man eher, daß dies nur mit einem gigantischen Aufwand an Hochtechnologie möglich sei. Tatsächlich sind aber bis in die Gegenwart hinein immer wieder Entdeckungen mit einfachsten Laborgeräten gelungen, die später natürlich technisch verfeinert wurden. In den Geistes- und Sozialwissenschaften gibt es Parallelen zu dieser wohltuenden Beschränkung: Umberto Eco zeigte in einer Lehrschrift, dass man schon mit dem Bestand einer Provinzbibliothek eine akademische Abschlußarbeit verfassen könne, wenn man nur erfinderisch genug ist und nicht auf Königswege angewiesen ist. Dies kann man als ‚platonisches Prinzip’ des Erkennens und Entdeckens bezeichnen, da es auf elementaren Bausteinen und Hilfsmitteln, und nicht auf fertigen Lösungen beruht.

Dieses Prinzip ist in der modernen Kultur leider deutlich verlorengegangen, da der Nutzer technischer Produkte immer mehr von deren inneren Wirkprinzipien abgeschirmt wird. Einsicht und Kenntnis werden nicht nur nicht vorausgesetzt, sondern durch Versiegelung und glatte Benutzeroberflächen geradezu verhindert. Es ist geradezu ein Verkaufsargument, dass die Bedienung eines Gerätes oder eines Programms nur noch rudimentärer intellektueller Fähigkeiten bedarf. Hier ist eine neue Kultur der Aufklärung gefordert, die abermals erhellende Lichtungen schlägt.

Take your sunken eyes and learn to see

Das ‚liebende Eindringen’ in das Wesen der Dinge und die Rückbesinnung auf einfachste Prinzipien begegnen uns als willkommene Möglichkeitsfelder in Zeiten, in denen wir nach dem Verlust der gewohnten und lange hart verteidigten Lebensbahn wieder von vorn beginnen müssen. Können wir noch neue Welten entdecken, die nicht schon längst bekannt sind? Bei weitgehend verlorenem Sehrest sitzen wir vor den Lesegeräten oder den Brailleschriften und versuchen einen Text unter erheblichem Zeit- und Energieaufwand zu erfassen. Beim Usher-Syndrom kann der Verlauf eines Gespräches oder selbst das Abhören eines Tonträgers zu einer Abnutzungsschlacht werden. Vielleicht ist dieses Bemühen sinnlos, da wir vordergründig etwas nachholen wollen, das andere mit einem Wimpernschlag oder mit halbem Ohr schon leicht erfassen können.

Mir scheint aber, dass sich durch diese Reduktion der Mittel und auch die quälende Langsamkeit sich doch eine neue Dimension auftut. Lese ich einen von früher bekannten Text ein weiteres Mal unter den heutigen Bedingungen, so wird dieser zu einem ganz neuen. Einst wurde er als selbstverständliches Gut fast nebenher gelesen, während ich heute in seine Zeilen wie in neue Welten eindringe, die mir deshalb so liebenswert erscheinen, da sie sich dem leichten Zugriff verweigern. Es erscheinen sinnliche Facetten und Bedeutungsebenen, die erst durch mein Lesen geschaffen werden, während sie beispielsweise durch die Aufsprache eines neutralen Sprechers ausgeblendet werden.

In der alltäglichen Mobilität werden die Bewegungsabläufe des sehenden sozialen Umfeldes zunächst unvollkommen nachgeahmt, bis wir allmählich zu eigenen Systemen und Strategien gelangen. Tatsächlich kommt es zu einer ‚Verwandlung der Räume’, da wir diese für uns neu entdecken und erschließen. Bei täglicher Übung gelingt dies mit einfachsten mechanischen Mitteln, denn erst durch diese Beschränkung sind wir gehalten, unsere gesamte noch verbliebene, aber durchaus mannigfaltige sensorische Oberfläche wieder zum Leben zu erwecken.

Das sich vormals so aufdrängende Nebensächliche wird ausgeblendet. Vielleicht dringen wir erst auf diese Weise zum Wesen der Dinge vor, von dem Thomas gesprochen hat.

Drei Männer

Nie hätte ich gedacht, dass das Plato’sche Höhlengleichnis einmal zur Realität meines Lebens werden würde. Zu der Welt da draußen, deren sich bewegende Schatten uns noch verfolgen, scheint die direkte sinnliche Beziehung verloren gegangen zu sein. Was können wir da noch erkennen? Wieder einmal bin ich erst im letzten Augenblick vom Wege abgekommen. Ich streife an einer sonnenwarmen, verwitternden Mauer entlang. auf der jungfräulich rankender Efeu seinen Raum findet. Ich kann die vereinbarte Eingangspforte nicht finden, vermutlich bin ich schon viel zu weit. Da sehe ich im Gegenlicht das Schattenspiel dreier arbeitender Männer, deren starke und gewandte Bewegungen mich sofort anziehen. Ihnen kann ich mich ohne Scheu und Verstellung nähern; ohne Aufhebens werde ich an mein Ziel gebracht.

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