Rede zum Fachgespräch

vom 29.03.2012 beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales in Berlin anlässlich der Unterschriftenübergabe zum Merkzeichen TBL
von Michael Gräfen

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Herr Zelle von der Bundesarbeitsgemeinschaft Taubblinder sprach für Betroffene, die von Geburt an gehörlos sind. Ich vom Selbsthilfeverein Leben mit Usher-Syndrom e.V. spreche für Betroffene, die von Geburt an hochgradig bis an Taubheit grenzend schwerhörig sind, und möchte Ihnen als Beispiel die Lebenssituation von Erwachsenen nach der Diagnose der doppelten Sinnesbehinderung vorstellen:

Die Betroffenen erreichen – von Hörgeräten einmal abgesehen – ohne besondere Hilfen ihre Schul-, Berufs- und Studienabschlüsse, gründen Familie und leben ein „fast“ normales Leben. Wer bisher nur von einer Schwerhörigkeit ausgegangen war, sein Leben danach ausgerichtet und die Einschränkung akzeptiert hat, wird spätestens „in den besten Lebensjahren“ erkennen müssen, dass auch etwas mit den Augen nicht stimmt.

Mit der Diagnose Usher-Syndrom und der fast sicheren Aussicht, irgendwann zu erblinden, bricht die bisherige Zukunftsperspektive zusammen und eine dauerhafte psychische Belastung beginnt. Schon am Anfang müssen die Betroffenen und ihre Angehörigen bitter erfahren, dass es kaum umfassende Hilfen vor Ort gibt.
Ärzte, Therapeuten, Hilfsmittelanbieter sind lediglich Spezialisten auf ihrem Gebiet und können für außerhalb ihrer Disziplin liegende Probleme keine Hilfe anbieten. Professionelle, qualifzierte Beratungsstellen, die mit den unterschiedlichen Aspekten der Behinderung vertraut sind, stehen nicht zur Verfügung. Die Erkenntnis, alleine mit seinen Problemen dazustehen, kommt zum schmerzvollen Verdauen der Diagnose hinzu.

Anschließend beginnt eine Phase des bewussten Erlebens der gleichzeitigen Sinneseinschränkung von Ohr und Auge sowie ein nicht aufhörender Bewältigungsprozess, da der Grad der Einschränkung schleichend steigt. Die Kompensation über die Augen fällt langsam, aber stetig weg und die Auswirkungen werden in allen Bereichen des täglichen Lebens deutlich spürbar.

Hierzu einige Beispiele

Kommunikation:
Es steigt die Anzahl der Situationen, in denen das Ablesen der Lippen nur noch eingeschränkt oder gar nicht mehr möglich ist. Durch das stark eingeschränkte Gesichtsfeld, dem sogenannten Tunnelblick, kann die nonverbale Kommunikation von Gestik und Mimik, aber auch die zum Gruß gereichte Hand nicht mehr wie früher wahrgenommen werden.
Alle zwischenmenschlichen Kontakte leiden unter den steigenden Missverständnissen, die anfänglich vielleicht noch amüsant sind, sich häufen, lästig, unangenehm, anstrengend und zuletzt belastend werden.
Eine gewisse Zeit versuchen die Betroffenen mit einem hohen Kraftaufwand durch erhöhte Konzentration den Mangel an Sinneswahrnehmung auszugleichen.
Diese Strategie ist kraftraubend und auf Dauer nicht zu leisten, zumal die Lücken beim Empfang der Informationen mit der Zeit immer größer werden und nicht mehr geschlossen werden können.
Die Möglichkeiten der autarken Kommunikation reduzieren sich auf ein derart geringes Maß, dass die Einsamkeit näher ist als die Inklusion.

Familie:
Wenn denn eine vorhanden oder noch vorhanden ist, dann machen die Auswirkungen der Erkrankung auch nicht vor den Angehörigen und dem gemeinsamen Leben halt. Die Abhängigkeit von nahen Angehörigen ist früher oder später zwangsläufig, was für jede zwischenmenschliche Beziehung mangels Alternativen für beide Seiten verhängnisvoll sein kann. Nur wenige Beziehungen halten das aus, so dass nebenbei auch das Thema Partnerschaft zu einem belastenden Problem werden kann.

Orientierung und Mobilität:
Die reduzierte akustische und optische Wahrnehmung im Straßenverkehr lässt die selbständige Teilnahme zu einem mentalen Kraftakt werden, da die wechselseitige Abgleichung der Sinneseindrücke nicht mehr funktioniert.
Beispielsweise lässt sich in vielen Situationen allein mit dem eingeschränkten Hörvermögen nicht die Richtung eines heranfahrenden Autos bestimmen. Neben dem allgemeinen Straßenlärm als störende Geräuschkulisse und der begrenzten Zeit für die Einschätzung der Verkehrssituation, wissen die Betroffenen meist nicht, wo sie mit ihrem Tunnelblick mit dem Suchen nach dem Auto anfangen sollen.
Mit dem Grad der Einschränkung steigt trotz des Einsatzes eines weißen Langstockes die Zahl der Fehleinschätzungen, das Risiko eines Unfalls sowie das Gefühl von Unsicherheit, Stress und Angst.
Als Konsequenz mögen die Betroffenen für ihre Freizeit auf die Teilnahme am Straßenverkehr verzichten, aber für die Grundbedürfnisse wie Beschaffung von Lebensmitteln oder Aufsuchen eines Arztes geht es nicht. Sie brauchen Assistenz.

Freizeit:
Mit dem Fortschreiten der Erkrankung sinkt die Zahl der Möglichkeiten und wessen Hobby nun nicht mehr ausgeübt werden kann, der hat einen weiteren Verlust zu verkraften.

Beruf:
Von den Betroffenen, die einen Beruf haben ergreifen können, gibt es nur wenige, die mit entsprechenden Hilfsmitteln und / oder Arbeitsassistenz ihren Arbeitsplatz erhalten.
Leider verlieren die meisten ihren Beruf, da nur äußerst wenige Arbeitgeber in der Lage sind, den Betroffenen eine Arbeit anzubieten, die mit der doppelten Sinnesbehinderung bewältigt werden kann.
So haben die Betroffenen neben dem gesundheitlichen und sozialen nun auch noch einen wirtschaftlichen Abstieg hinzunehmen.

Die Folge aller Auswirkungen sind, das Empfinden von Kraft- und Mutlosigkeit, Erschöpfung, Unsicherheit, Angstzustände, Stress, Depression, Resignation bis hin zur Isolation.

Die psychosozialen Folgen wie Verlust der Selbstständigkeit, Abhängigkeit von der Hilfe anderer, Verlust des Selbstwertgefühls und Stress werden von Betroffenen als noch schwerwiegender empfunden als der eigentliche Verlust der Hör- und Sehkraft.

Mangels Heilverfahren müssen Betroffene über Jahre – im wahrsten Sinne des Wortes – zusehen wie ihre Sehkraft schwindet und der Kreis ihrer selbstständigen Lebensgestaltung immer kleiner wird.

Warum erzähle ich Ihnen das?

Weil die eigentlichen Belastungen nicht offensichtlich sind, „man sieht sie einem nicht an“. Sie finden im Verborgenen, im Inneren mit großen Auswirkungen statt.
Um Verstanden zu werden, müssen sich Betroffenen ständig erklären und trotzdem werden die wahren Probleme von der Umwelt kaum nachvollzogen und realisiert.

Durch die gleichzeitige Einschränkung beider Sinne potenzieren sich die Probleme, weil eine Kompensation weder durch das andere Sinnesorgan noch durch andere Sinne möglich ist. Ein spezieller Hilfebedarf ist schon zu einem Zeitpunkt gegeben, bevor die Kriterien für die Merkzeichen Gl wie gehörlos und Bl wie blind erfüllt sind.

Für diese Betroffenen besteht in Deutschland nicht nur eine extreme Unterversorgung, sondern Hilfe findet mangels Anerkennung gar nicht erst statt.

Ein weiteres Problem bei allen Betroffenen ist, dass sich der Bedarf an Hilfen und Hilfsmitteln je nach Fortschritt der Einschränkung ständig ändert. Der Geist und die Psyche sind spätestens seit der Diagnose einer enorm schweren und dauerhaften Belastung ausgesetzt. Bei jeder neu wahrgenommenen Einschränkung beginnt der Schmerz des Verlustes und der Prozess der Bewältigung von vorne.

Die Folge der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz treibt die meisten Betroffenen zwangsläufig in die Isolation. Und wenn sie dort angekommen sind, sind sie gesellschaftlich nicht mehr präsent und mangels Erfassung weder für Selbsthilfegruppen noch den Sozialstaat zu erreichen.

Für die Inklusion nehme ich folgende Realität wahr:
Spätestens dann, wenn bei Betroffenen objektiv der Bedarf an Assistenz besteht, ist subjektiv die Fähigkeit zur Kommunikation und die Mobilität auf ein Minimum gesunken.
Dadurch, dass die Betroffenen die Lautsprache erlernt haben und nicht von Geburt an gehörlos sind, können sie nicht das Merkzeichen Gl für gehörlos und den damit verbundenen, wichtigen Anspruch auf Dolmetscher bekommen. Die mit dem Merkzeichen BL für blind vorgesehenen Hilfsmittel arbeiten überwiegend akustisch, so dass diese für die Betroffenen wegen ihrer Hörschädigung vielfach sinnlos sind.

Ich frage:
Wie sollen in der Kommunikation und Mobilität soweit eingeschränkte Menschen die bürokratischen Barrieren ohne Hilfen überwinden, um erfolgreich einen Antrag auf Hilfe zu stellen?
Wie soll die Sachbearbeiterin oder der Sachbearbeiter einer Behörde oder Krankenkasse erkennen, dass bei Taubblindheit ein von der Regel abweichender Ausnahmefall mit speziellen Bedürfnissen vorliegt?
Wie sollen die Betroffenen gefunden werden, die den Rückzug in die Isolation vollzogen haben?

Was kann getan werden?

Die Einführung des Merkzeichens TBL auf dem Schwerbehindertenausweis würde das Leben der Betroffenen zumindest im Kontakt mit Behörden und Leistungsträgern erheblich erleichtern, da mit der Anerkennung als Behinderung eigener Art das ständige – für den Betroffenen praktisch schwierige - Erklären der spezifischen Probleme entfällt. Mit dem Merkzeichen sollte eine Liste von Leistungen erstellt werden, die speziell für taubblinde Menschen geeignet sind und somit wirklich helfen:

  • Geregelte Assistenz, um taubblinden Menschen überhaupt die Möglichkeit zu geben, am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt und mit Würde teilzunehmen.
  • Interdisziplinäre und professionelle Beratung, um mit ihrer Hilfe und Unterstützung in jeder Lebensphase die Teilhabe aufrecht zu erhalten und so das Abgleiten in die Isolation zu verhindern.
  • Spezifische Hilfsmittel sowie Rehamaßnahmen zur Unterstützung von Kommunikation, Mobilität und lebenspraktischen Fertigkeiten.

Ich hoffe, dass auch Sie erkennen, dass Taubblindheit wesentlich mehr ist, als die Summe von zwei Sinneseinschränkungen, und dass das Zulassen der Isolation durch unterlassene Hilfeleistung mit den Gedanken der Inklusion nicht zu vereinbaren ist.

Die Lücke im Sytem sollte schnellstmöglich geschlossen werden, denn der Krankheitsverlauf schreitet bei den Betroffenen erbarmungslos fort und wartet nicht.

Ich wünsche mir, dass Sie im Geiste des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker handeln, der einmal sagte:

Körperliche Unversehrtheit ist wahrlich kein Verdienst, sondern ein Geschenk, das jedem jederzeit genommen werden kann.

In diesem Sinne bitte ich Namen aller Betroffenen und deren Angehörigen um Ihre größstmögliche Unterstützung und danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
 

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