Rede zum Thementag Usher-Syndrom am 18.10.2014 in Darmstadt

Menschen mit Hör-Seheinschränkung und das geplante Merkzeichen: Was ändert sich für diese Gruppe?
Von Michael Gräfen - Leben mit Usher-Syndrom e. V. und Irmgard Reichstein - Stiftung taubblind leben

Michael Gräfen

Sehr geehrte Damen und Herren!
Auch ich begrüße Sie recht herzlichst und freue mich, dass Sie trotz der Barriere Bahnstreik so zahlreich erschienen sind.

Zur Vorgeschichte, die leider noch gegenwärtig ist und nicht der Vergangenheit angehört:

  • Vor 10 Jahren hat das Europäische Parlament die Mitgliedsstaaten - also auch Deutschland - aufgefordert, Taubblindheit als Behinderung eigener Art anzuerkennen.
  • Vor 5 Jahren wurde die UN BRK von Deutschland ratifiziert.
  • Vor zwei Jahren fassten die Sozialminister aller Bundesländer einen einstimmigen Beschluss, das Merkzeichen TBL auf dem Schwerbehindertenausweis einzuführen.
  • Seit der 2013 veröffentlichten Studie „Teilhabe und Inklusion von Menschen mit Hörschädigung in unterschiedlichen Lebenslagen in Nordrhein-Westfalen“ ist wissenschaftlich festgestellt, dass es in Deutschland für Menschen mit einer doppelten Sinnesbehinderung kein einziges Erfassungssystem gibt, also niemand sagen kann, wie viele Betroffene es wirklich gibt.

Dass es diese Menschen auch in Deutschland gibt, deren Probleme sich durch den Wegfall der Kompensationsmöglichkeit des anderen Sinnesorgans potenzieren, dürfte unbestritten sein.
Und ausgerechnet die in der Kommunikation und Mobilität erheblich eingeschränkten Menschen müssen jeder für sich um die Anerkennung ihrer besonderen Situation gegen bürokratische Barrieren kämpfen, die ohne Assistenz kaum zu überwinden sind.
Oder anders gesagt:
Diese Gruppe von Menschen braucht schon Hilfe um Hilfe zu beantragen.

Irmgard Reichstein

Wie ist die aktuelle Lage? Welche Daten und Fakten haben wir?
Bevor wir uns mit den möglichen und dringend notwendigen Veränderungen befassen, möchten wir die aktuelle Lage anhand einiger konkreter Fakten beleuchten. Wir greifen dazu NRW heraus. Warum NRW? Wir halten die Lebenssituation taubblinder Menschen in NRW innerhalb der BRD für besser und zugleich haben wir für NRW die beste Faktenlage. Jahrzehntelange bislang zumeist ehrenamtliche Arbeit in NRW geben uns gute Einblicke. Die Taubblindenassistenzausbildung in Recklinghausen führt zu einer gemessen an anderen Bundesländern deutlich besseren Verfügbarkeit von Assistenz. Die von Michael Gräfen erwähnte wissenschaftliche Studie der Universität zu Köln legt dennoch die dramatische Benachteiligung taubblinder Menschen in NRW offen und empfiehlt die Gründung eines Kompetenzzentrums für taubblinde Menschen.

Die Stiftung taubblind leben unterstützt taubblinde Menschen bei der Beantragung und Durchsetzung von qualifizierter Assistenz, für die sehr viele eine notwendige Voraussetzung für jedwede Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wir wissen, dass in NRW inzwischen 16 hörsehbehinderte und taubblinde Menschen Assistenz über die Eingliederungshilfe in Anspruch nehmen. Ich wiederhole 16 von schätzungsweise 600 bis 900 laut der Studie sogar 1900 Betroffenen. Damit dürfte NRW in der ganzen BRD führend sein. In vielen Fällen waren nur deutlich unter 10 Wochenstunden durchsetzbar und die einzelnen Verfahren sind zum überwiegenden Teil überaus mühsam verlaufen. In vier Fällen klagen wir noch, die Verfahren ziehen sich bereits bis zu 4 Jahren hin. Menschen mit geringen Ersparnissen ziehen ihre Anträge durchweg zurück, wenn sie sie überhaupt stellen. Das Blindengeld wurde teilweise mit 50% für Assistenzleistungen herangezogen, wogegen wir noch vorgehen. Jeder von uns weiß, dass Assistenz für taubblinde Menschen eine notwendige Voraussetzung für Teilhabe darstellt. Die Benachteiligung taubblinder Menschen wird bereits in diesen Fakten greifbar.

Als Stiftung haben wir uns auf den Weg gemacht, jenseits der „aktiven Taubblindenszene“ von Hörsehbehinderung und Taubblindheit betroffene Menschen zu finden. Das Projekt haben wir Aufklären – Finden – Inkludieren genannt. Die Laufzeit des Projektes: 2 Jahre von Januar 2013 bis Dezember 2014. Ziel ist es, über gezielte Aufklärungsmaßnahmen in Einrichtungen, Beratungsstellen, Bildungseinrichtungen oder z.B. bei den Behindertenbeauftragten der Gemeinden Personen zu finden, die noch nicht bekannt waren. Wir wollen der hohen Dunkelziffer einen Schritt näher kommen. Die Lebenssituationen der Menschen sollen erfasst, ihre Bedarfe ganz konkret ermittelt und dokumentiert werden. Hildegard Bruns und Judith Willekens haben über den kompletten Zeitraum jede Woche im Schnitt einen Arbeitstag nur in dieses Projekt gesteckt, unterstützt von einigen Taubblindenassistenten/innen und Betroffenen. Wir haben das Projekt deshalb auf NRW begrenzt, weil wir dort die beste Basis haben, um am Ende auch die Teilhabe der auf diese Weise gefundenen Personen aktiv zu verbessern. Ohne diese Perspektive ist die Arbeit für die ausführenden Personen extrem bedrückend.

137 Menschen haben wir gefunden und bei 57 davon konnten wir bislang die aktuelle Lebenslage erfassen und die Bedarfe ganz konkret abfragen.
Auf der Basis der individuellen Lebenssituationen haben wir mit den Betroffenen gemeinsam erarbeitet, welche vorrangigen Bedarfe bei ihnen vorliegen. Es kommen jetzt einige Zahlen, die Sie aber alle nachlesen können.

  • Allem voran besteht der Bedarf an Austausch mit anderen Betroffenen und Kontakte zu Selbsthilfegruppen (47 Personen), von deren Existenz die Personen oft erst durch uns erfahren haben. Zu beobachten ist hier stets, wie sich die Menschen in der Selbsthilfe gegenseitig bereichern, sich Mut geben, Erfahrungen und Wissen austauschen und vor allem Momente der Freude am Leben miteinander teilen.
  • Ein weiteres unerfülltes Bedürfnis ist der Zugang zu Informationen. Einem der wichtigsten Grundbedürfnisse und Grundrechte eines jeden Menschen und maßgebliche Basis für die persönliche Weiterentwicklung.
  • Sehr wichtig ist die Versorgung mit Hilfsmitteln (38 Personen), die die Menschen dazu befähigen ihre Selbständigkeit zurückzuerlangen, Gefahren zu verringern und das alltägliche Leben meistern zu können.
  • Das Erlernen der taubblindenspezifischen Kommunikationsformen ist ein weiterer Bedarf, der von 35 Personen als vorrangig und als wichtige Voraussetzung auch für den Zugang zu Information eingestuft wurde.
  • Dringend benötigt wird auch die Unterstützung bei Beantragungen und administrativen Verfahren (34 Personen).
  • 17 Mal wurden der Bedarf an Entlastung der Bezugspersonen und 29 Mal der Bedarf an TBA genannt.
  • 10 Betroffenen haben als vorrangigen Bedarf die Stabilisierung der psychischen Situation angegeben.
  • Unterstützungen von Alltag und Wohnsituation wurde von 20 Personen als vorrangiges Ziel definiert.
  • Frühförderung, schulische und berufliche Unterstützung hatten in 6 Fällen Priorität.

Die unzureichende Unterstützungssituation spiegelt sich deutlich in den absolvierten REHA-Maßnahmen und der Hilfsmittelversorgung wieder. 30% der Personen hatten keine REHA-Maßnahmen absolviert und ebenfalls 30 % verfügten über keinerlei Hilfsmittel. Viele Der Zugang zu Mobilitätstraining ist für diejenigen, die gesetzlich blind sind, grundsätzlich gegeben. So haben immerhin 27 % ein Mobilitätstraining absolviert und 21% nutzen auch einen Blindenstock. Andere Maßnahmen sind aber nur sehr schwer zugänglich (kleiner als 10 %).
Ein aktives und selbstbestimmtes Leben mit Taubblindheit ist bei einer so schlechten Versorgung nicht möglich.
Ich möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass wir im ersten Schritt nur solche Menschen gefunden haben, die noch einen losen Kontakt außerhalb der Familie hatten oder in Einrichtungen leben, die sich dem Thema vorsichtig öffnen. Wir gehen davon aus, dass wir viele Menschen auf diesem Weg nicht finden können. Menschen, die in ihren Familien oder Einrichtungen insbesondere auch Psychiatrien und Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung vollkommen isoliert sind. Hier liegt noch sehr viel Arbeit vor uns.
Wenn wir für NRW bereits zu diesen Schlüssen kommen, wie sieht dann die Situation in anderen Bundesländern aus? Man muss sich nur die Verteilung der qualifizierten Taubblindenassistenten/innen in Deutschland ansehen, um zu erkennen, dass annähernd vergleichbare Lebensverhältnisse bestenfalls in Bayern und Baden Württemberg herrschen. In anderen Bundesländern sieht es gemessen an NRW mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich schlechter aus.

Die Situation erfordert klare und umfassende Maßnahmen seitens der Gesellschaft, um aktuellem Unrecht durch die gravierende Diskriminierung entschieden entgegenzutreten. Hier ist ein beherztes Eingreifen erforderlich wie es beispielsweise in der Investition von 1,1 Mrd € sichtbar wird, die in NRW bis 2020 in Baumaßnahmen für die Barrierefreiheit im Öffentlichen Nahverkehr fließen.
Damit gebe ich zurück an Michael Gräfen und der Lage zum Merkzeichen und der Frage, was sich ändern wird.

Michael Gräfen

Was ändert sich mit der Einführung des Merkzeichens?
Durch die amtliche Anerkennung kann in der Gesellschaft ein größeres Bewusstsein für die Existenz von Taubblindheit entstehen.
Damit alleine ist noch keine Verbesserung der Lebenssituation von Taubblindheit betroffenen Menschen erreicht.
Zwangsläufig müssen dem ersten noch weitere Schritte folgen, wie die Festlegung von konkreten Maßnahmen, die den Betroffenen wirklich helfen.

Zum Beispiel geregelte Assistenz, um das zum Menschenrecht aufgestiegene Recht auf Teilhabe an der Gesellschaft rein praktisch in Anspruch nehmen zu können.

Derzeit ist Taubblindenassistenz kein anerkanntes Berufsbild.
Nur in den Bereichen Kommunikationshilfe oder bei Arztbesuchen wird in einigen Bundesländern die für die Betroffenen so notwenige Assistenz seitens des Sozialstaats honoriert.
Die meisten qualifizierten Taubblindenassistenten sind gezwungen ihre Tätigkeit nebenberuflich oder ehrenamtlich auszuführen, was auf Dauer zu einem Schwund der Assistenten führen wird.
Wenn die vorhandenen Ausbildungsmaßnahmen der Taubblinden-assistenz nachhaltig wirken sollen, dann muss auch dringend die Frage der Bezahlung geregelt werden.

Der Zugang zu Teilhabe an der Gesellschaft ist einkommens- und vermögensabhängig, was bedeutet, dass Betroffene und über die Unterhaltspflicht auch deren nahe Angehörige für die Inanspruchnahme des gewährten Menschenrechts selbst zahlen müssen.

Man stelle sich vor, dass ein kognitiv eingeschränkter Mensch für die Anforderung einer Informationsbroschüre in leichter Sprache oder ein Rollstuhlfahrer für die Nutzung einer Rampe eine einkommens- und vermögensabhängige Gebühr zahlen müssten.

Wie Sie unschwer erkennen können, findet in Deutschland aktuell nur aus Kostengründen eine Ungleichbehandlung bei der Gewährung derselben Menschenrechte statt.

Um eine Ablehnung von Assistenzleistungen wegen zu hoher Kosten entgegen zu wirken, muss deutlich gesagt werden, dass ein taubblinder Mensch keine 24-Stunden-Assistenz braucht und dies auch gar nicht will.
Wie das Gutachten des Gemeinsamen Fachausschuss taubblind/hörsehbehindert im November 2010 feststellt, liegt der Assistenzbedarf bei durchschnittlich 20 Wochenstunden, was einen durchschnittlichen monatlichen Bedarf von 87 Stunden entspricht.

Mit diesem Durchschnitt liegen die Kosten für die monatlichen Assistenzleistungen nicht höher, als die Kosten, die die Sozialbehörden jetzt schon im Durchschnitt für ein persönliches Budget bewilligen.
Mit anderen Worten: Dem Sozialstaat entstehen nicht zwangsläufig höhere Kosten. Im Gegenteil: Durch die Anerkennung und das Erkennen von Taubblindheit können fatale Fehlmaßnahmen wie etwa die Unterbringung in einer psychiatrischen Einrichtung, deren Kosten unbestritten um ein vielfaches höher liegen, vermieden werden.

Als Betroffener empfinde ich schon die steigende alltägliche Abhängigkeit von meiner Familie als belastend und unwürdig, zumal die mit der doppelten Sinnesbehinderung verbundenen Einschränkungen das gesamte Familienleben nachhaltig beeinflussen.
Assistenz wäre eine Entlastung für alle Beteiligten, doch ist für mich alleine schon der Gedanke unerträglich, dass meine Familie gegebenenfalls für diese Entlastung, für meine Selbstbestimmung in Würde, die Inanspruchnahme des Menschenrechts zahlen soll.
Da schließe ich mich Frau Verena Bentele, Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, an, die sagte:

„Derzeit dürfen Menschen mit Behinderung und hohem Assistenzbedarf höchstens 2600 € auf ihrem Konto haben. Die Regelung ist familien- und partnerschaftsfeindlich und gehört deshalb abgeschafft."

Ein weiteres Defizit in Deutschland ist das Fehlen eines Kompetenz-zentrums für Menschen mit einer doppelten Sinnesbehinderung,
Eine Stelle, die gleichermaßen für Betroffene, Angehörige, Arbeitgeber, Integrationsfachdienste, Leistungsträger usw. für Informationen und Fragen fachkundig zur Verfügung steht.
Ein Zentrum, welches für hörsehbehinderte und taubblinde Menschen insbesondere Angebote zur Beratung, Frühförderung, Schulung, Beschäftigung, Berufsbegleitung, Wohnen, Rehabilitation und Assistenzversorgung sowie Vermittlung zu anderen Leistungsträgern macht.

Ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, dass am 24.09.2014 die Deutsche Gesellschaft für Taubblindheit gGmbH in Aachen gegründet wurde. Deren Gesellschafter Deutsches Taubblindenwerk gGmbH, Stiftung taubblind leben, Bundesarbeitsgemeinschaft der Taubblinden e. V. und Leben mit Usher-Syndrom e. V. haben das Ziel ein solches Zentrum anzubieten und dauerhaft zu etablieren.

Aktuell läuft seit dem 08.10.2014 in NRW ein Interessenbekundungs-verfahren für die Trägerschaft eines Kompetenzzentrums für Sinnesbehinderte. Die Deutsche Gesellschaft für Taubblindheit gGmbH bewirbt sich mit ihren bereits vorhandenen Kompetenzen für den Teil der Taubblinden.

Es ist einiges in Bewegung und manches für viele Betroffene, deren Lebensumstände es in Deutschland eigentlich nicht geben sollte, viel zu langsam. Daher ist die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Taubblindheit gGmbH als Eigeninitiative zu verstehen oder wie Konfuzius sagte:

Es ist besser, ein Licht zu entzünden, als auf die Dunkelheit zu schimpfen.

Frau Reichstein und ich danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Diese Rede und der erste Ergebnisbericht des Projektes Aufklären-Finden-Inkludieren (detailliertere Berichte werden folgen) sind herunterzuladen unter www.stiftung-taubblind-leben.de/news

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