Medizinische und psychische Gesundheitsprobleme bei taubblinden Menschen mit Usher-Syndrom Typ II

zusammengefasst von Dr. Hans-Jürgen Krug

In einer im Frühjahr 2013 erschienenen Studie aus der Arbeitsgruppe um Prof. Claes Möller an der Universität Örebro wird der Gesundheitszustand von schwedischen Usher II-Patienten mit dem einer größeren bevölkerungstypischen Referenzgruppe verglichen. Nicht überraschend konnten hier zum Teil deutlich schlechtere Gesundheitswerte im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung festgestellt werden. Bislang war man in dieser Frage auf plausible Vermutungen angewiesen, und erst die vorliegende Studie legt hierzu statistisch gesicherte Daten vor. Traditionell konzentrierten sich medizinische Studien auf die Krankheitsverläufe und Schweregrade des Usher-Syndroms, aber die damit verbundenen Folgeerkrankungen (Fachausdruck: Komorbidität) wurden nicht untersucht. Aber gerade diese sind vor dem Hintergrund der auf lange Sicht nicht heilbaren Grunderkrankung von Bedeutung. Denn diese bieten sich zuerst und überhaupt als Gegenstand einer praktischen und erfolgreichen medizinischen Intervention an. Hilfreich ist hier auch die Kenntnis der teilweise deutlichen Unterschiede zwischen den Gesundheitswerten beider Geschlechter.

Usher-Patienten und Referenzgruppe

Die abgefragten Usher-Patienten stammten aus dem schwedischen Usher-Register, das insgesamt 122 Personen mit Usher II enthält. Die Häufigkeit des Usher-Syndroms wird in Schweden nach einer Erhebung von 2004 auf 100.000 Personen geschätzt. Bei einer Bevölkerungszahl von 9.573.466 (2013) ergäbe sich damit eine Dunkelziffer von 316 schwedischen Usher-Patienten.

Von den 122 angeschriebenen Usher II-Patienten des Registers reagierten 96 positiv (79 %). Dies sind schätzungsweise 55 % aller Usher II-Betroffenen in Schweden, einschließlich der nicht in der Datenbank erfassten (ca. 175). Das Durchschnittsalter dieser Probandengruppe betrug 55 Jahre bei einer Bandbreite von 18 bis 84 Jahren. 51 (53 %) davon waren Frauen, 45 (47 %) waren Männer. Die klinische Usher-Diagnose lag bei allen Probanden vor. 59 % waren bereits im Besitz eines genetischen Befundes. Im Zeitraum der Studie wurde der größte Teil der Probanden abermals in Bezug auf das Hör- und Sehvermögen begutachtet.

Die vom schwedischen Gesundheitsamt 2007 unabhängig von dieser Studie ausgewertete Referenzgruppe umfasste 5.738 Personen, davon 3.202 Frauen (56 %) und 2.536 Männer (44 %). Die Altersbandbreite lag bei der Referenzgruppe zwischen 23 und 91 Jahren mit einem Durchschnitt von 59 Jahren.

Damit sind die Usher-Gruppe und die Referenzgruppe von der Altersstruktur etwa vergleichbar. Die für beide Gruppen erarbeiteten Fragebögen enthielten detaillierte Fragen zur sozialen Situation, zum medizinischen und zum psychischen Gesundheitszustand. Fragen zur subjektiven Befindlichkeit und zu Krankheitssymptomen konnten in einer mehrstufigen Werteskala beantwortet werden.

Tabelle der Krankheitsbilder von Usher-Patienten

Diskussion

Bereits beim Überfliegen der Tabelle springen die gravierenden prozentualen Unterschiede in den Häufigkeiten der Beschwerdebilder zwischen den Usher II-Patienten und der Referenzgruppe ins Auge. Die dauernde und lebenslange Belastung durch den Ausfall zweier sich zudem stützender Hauptsinne führt naturgemäß zu einer deutlichen Schwächung des psychischen wie immunologischen Gesamtstatus‘ des Patienten. Psychosomatische Folgeerkrankungen sowie psychische Krankheitsbilder im engeren Sinne sind die unvermeidliche Folge. Selbst die oben erhobenen Ekzeme und Hautausschläge lassen sich heute großteils auf psychische Ursachen zurückführen. Bei den weiblichen Usher-Patienten ist der Anteil mit hochgradiger Hörbehinderung mit 49 % deutlich höher als bei den Männern (34 %). Umgekehrt ist es bei der Sehbehinderung (59 % gegen 38 %). Der letztere Befund ist durch eine Studie aus dem Jahre 2006 gestützt, nach der bei männlichen Usher-Patienten die Netzhautdegeneration RP schneller verläuft als bei Frauen (Usher-Typ I und II).

Es fällt ferner auf, dass selbst in der Referenzgruppe bestimmte Beschwerdebilder (Schulter- und Nackenschmerzen, Kopfschmerzen, Ermüdbarkeit, Tinnitus) unerwartet häufig auftreten, zum Teil mit deutlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Gravierende Hörbehinderungen sind mehr als doppelt so häufig vertreten wie hochgradige Sehbehinderungen. In beiden Vergleichsgruppen ist bei Kopfschmerzen und Schulter- und Nackenschmerzen sowie in den psychischen Kategorien (Ermüdbarkeit, Spannungsgefühl, Gefühl der Wertlosigkeit und Angstgefühl) der prozentuale Anteil bei den Frauen deutlich höher als bei den Männern.

Die vorliegende Studie schließt mit einem Plädoyer für zentralisierte Einrichtungen, die sich mit gebündelter und interdisziplinär vernetzter Kompetenz für die gesundheitlichen Belange von Usher-Betroffenen einsetzen. Es ist eine bereits oft angesprochene Tatsache, dass jeder etatmäßige Augen- oder HNO-Arzt einen Usher-Patienten allenfalls nur ein- bis zweimal in seiner beruflichen Laufbahn zu sehen bekommt. Eine wirksame Unterstützung für die komplexen Beschwerdebilder im Kielwasser der doppelten Sinnesbehinderung könnte keiner der beiden Fachärzte allein anbieten. Zudem sind viele Usher-Betroffene bei fortgeschrittener Sehbehinderung weitgehend isoliert, weshalb sie kaum noch in der Lage sind, weiterführende Ärzte aus eigener Kraft zu konsultieren.

Abschlussbemerkungen

Die geforderte gebündelte Kompetenz soll sich nicht nur auf die vorerst kaum beeinflussbaren Sinnesausfälle beim Usher-Syndrom konzentrieren, sondern auch auf die im Grunde behandelbaren physischen und psychischen Folgeerkrankungen richten. Denn letztere können die Patienten oftmals stärker und auf Dauer quälender belasten als das schlechte Hören und Sehen. Die Möglichkeiten für die Rehabilitation bei psychosomatischen Erkrankungen allgemein haben sich in den letzten gut zehn Jahren durch eine zunehmende Einsicht in deren Wirkmechanismen deutlich verbessert. War früher die „Psychosomatik“ ein Sammelbegriff für alle organisch nicht fassbaren Beschwerden, weiß man heute mehr über die Somatisierung (= Umsetzung ins Organische) von „nur“ psychischen Störungen, ja selbst von geringen, aber andauernden seelischen Ungleichgewichten, wie sie beispielsweise beim Usher-Syndrom an der Tagesordnung sind. Das vermittelnde Agens zwischen Seele und Körper sind oftmals messbare rein muskuläre Spannungszustände. Diese können Ausdruck von unbewussten inneren Angst- oder Abwehrhaltungen sein, die sich über die Jahre verfestigen und eines Tages wegen ihrer Verdrängung zu unerklärlichen Beschwerdebildern führen. Dies wäre eine Folge allein schon des uns nur zu gut gekannten „Hörstresses“ (man achte einmal auf das sich dabei einstellende gleichbleibende Muster der Körperspannung!), aber auch der permanenten Angst im Vorfeld belastender Situationen.

Quelle:

Wahlqvist, Moa; Möller, Claes; Möller, Kerstin & Danermark, Berth (2013). Physical and Psychological Health in Persons with Deafblindness That Is Due to Usher Syndrome Type II. Journal of Visual Impairment and Blindness, 107(3), 207-220.

URL: http://scholar.googleusercontent.com/scholar?q=cache:aqyiM92Wr1EJ:scholar.google.com/&hl=de&as_sdt=0,5&as_vis=1

 

 

Zurück zum Seitenanfang