Die Gene im Hintergrund

Dr. Hans-Jürgen Krug

Der genetischen Forschung ist es in der letzten Dekade auf der Suche nach einer Therapie erblich bedingter Erkrankungen gelungen, zahlreiche gesuchte Verursachergene zu ermitteln. Gleichzeitig wird aber die noch unerfaßte Komplexität biochemischer Zusammenhänge erst auf diesem eigentlich schon mit Gewissheit abgesteckten Wege zunehmend erfahren. Wie beim Verständnis von gesellschaftlichen Zusammenhängen oder technischen Systemen zwingt uns immer erst ein pathologisches Verhalten oder eine Normabweichung, ein vordem rudimentäres oder simplifiziertes Modellverständnis einer einsichtig vertiefenden Bearbeitung zu unterwerfen.

Variationen des Krankheitsverlaufs

Bei den erblich bedingten degenerativen Erkrankungen des Hörens und des Sehens begegnet uns selbst in gleichen Phänotypklassen (auch bei der klassischen RP oder dem Usher-Syndrom) eine oft überraschende Variabilität des Verlaufes in Bezug auf Schwere, relativer Ausprägung der einzelnen Symptome oder dem Zeitpunkt des Einsetzens der Erkrankung. Ein unlängst erschienener Übersichtsbeitrag "Genetische Modifikatoren des Sehens und des Hörens" weist auf ein neues Möglichkeitsfeld zur Klärung dieser Frage hin.

Die Autoren aus dem amerikanischen Jackson Laboratory nennen vier Ursachen für die beobachtete Verlaufsvariabilität:

  1. unterschiedliche primäre Gendefekte
  2. verschiedene Allele des selben Gens
  3. unterschiedliche Umweltbelastungen
  4. schließlich: Genetische Modifikatoren

Gene als graue Eminenzen

In den letzten Jahren konnte an einer wachsenden Zahl von Beispielen gezeigt werden, daß die Expression primärer (defekter) Gene nicht von ihnen allein, ihren Allelen oder Umwelteinflüssen abhängt, sondern auch von ihrem genetischen Hintergrund (genetic background, genetic modifiers) bestimmt wird. Diese Modifikatoren (ein oder mehrere Gene) befinden sich an von dem Primargen unabhängigen Orten.

So können die Auswirkungen eines defekten Gens durch diesen neuen Einflussfaktor verstärkt, abgeschwächt, oder sogar vollständig aufgehoben werden. Auch unter den zahlreichen genetisch bedingten degenerativen Erkrankungen des Sehens und des Hörens konnten bereits einige Modifikatoren angegeben werden.

Modifikatoren für Sehen und Hören

Bei Augenerkrankungen des Menschen lassen sich folgende Hinweise auf Hintergrundgene anführen: Bei einer einzigen Deletion des RDS-Gens ergeben sich drei vollständig verschiedene Krankheitsbilder, darunter RP. Auch unterschiedliche Ausprägungen von RP1, POAG (einem Glaukom) sowie des Bardet-Biedl-Syndroms werden auf Modifikatoren zurückgeführt. Bei Mausmodellen ist die Zahl der Belege für die Steuerung verschiedenster Augenerkrankungen durch Modifikatoren größer, da dort Gendefekte und genetische Hintergründe gezielt miteinander kombiniert werden können.

Unter den genetisch bedingten Hörverlusten gibt es ein prominentes Beispiel, wo innerhalb einer Familie das sonst zu Gehörlosigkeit führende DFNB26-Gen durch einen DFNM1-Genort unterdrückt wird. Zahlreicher sind wiederum Mausmodelle; bei einem von ihnen lassen sich die Ausprägungen von Hörverlusten durch Modifikatoren bereits definiert einstellen.

Therapeutische Perspektiven

Wenn auch bislang nur wenige Gene im Hintergrund identifiziert werden konnten (die Klonierung ist schwierig), eröffnet sich durch sie doch ein bisher unabgestecktes therpeutisches Möglichkeitsfeld -- neben der vordem allein angestrebten Korrektur der primär krankheitsverursachenden Gendefekte. Gelänge es einmal, den Regulationsmechanismus der Hintergrundgene detailliert zu entschlüsseln, hätte man damit ein neues biochemisches Steuerventil in der Hand, um die sonst schwerer zugänglichen Primärgene zu kontrollieren. Möglicherweise ist der dazu nötige Aufwand erheblich reduziert, wie etwa bei einem Transistor oder einer Triode schon geringe Steuersignale ausreichen, um im Vergleich dazu viel stärkere Stromflüsse auszulösen.

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